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Die beiden großen Premieren beim Festival Pour l’humanité in Lyon thematisieren jüdische Verfolgung und Antisemitismus aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Während der 90-minütige Einakter Benjamin, dernière nuit wahre Begebenheiten aus dem Leben des Philosophen Walter Benjamin schildert, erzählt Jacques Fromental Halévys ausladende Grand opéra La Juive an Hand einer fiktiven Beziehungsgeschichte von Judenverfolgung während des Konstanzer Konzils. Private Konflikte – die Liebesverbindung zwischen der Jüdin Rachel und dem sich als Juden ausgebenden christlichen Reichsfürsten Leopold, der aber eigentlich mit der christlichen Prinzessin Eudoxie verlobt ist – sowie der Glaubenskonflikt zwischen dem jüdischen Goldschmied Eléazar und seinem Gegenspieler, dem Kardinal Brogni, führen zu rassistisch bedingter Gewalt gegenüber Vater und Tochter. Beide enden auf dem Scheiterhaufen. Auch die Aufführungsgeschichte von La Juive ist mit Antisemitismus verknüpft. Denn die 1835 in Paris uraufgeführte Oper, die europaweit zum festen Repertoire gehörte, wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten. Ihre Rehabilitation wurde erst Ende der 1980-er Jahre in Bielefeld eingeleitet, und seither erobert sie sich sukzessive wieder die Bühnen zurück. In Paris wird sie 2017 nach über 70 Jahren wieder auf dem Spielplan erscheinen, noch nach Lyon, das mit der hiesigen Premiere den französischen Vorreiter macht.
Regisseur Olivier Py entwickelt die Geschichte in großer Ruhe und verzichtet auf mittelalterlichen Prunk oder Schockeffekte. Er lässt La Juive in einem dunklen, nicht näher identifizierbaren Land spielen. Die Personenführung zeichnet sich durch eine fast antike Strenge aus, der Chor wird zur rohen, entindividualisierten Masse. Unterstrichen wird die Düsternis des Geschehens durch die Ausstattung von Pierre-André Weitz. Sie ist, von nur ganz wenigen Farbtupfern, wie den roten Strümpfen der Prinzessin, abgesehen, gänzlich in Schwarz- und Grautönen gehalten. Eine Treppe beherrscht die Bühne, im Hintergrund zeigt ein Prospekt abgestorbene Bäume, davor rotiert eine überdimensionale, bedrohlich wirkende Bibliothek aus mehreren Elementen. Sie wird in ständiger Bewegung immer wieder neu zusammengefügt – was die Inszenierung, die sonst durch ihre Konzentration aufs Wesentliche beeindruckt, stört und ablenkt.
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Zu einem besonderen Ereignis wird der Abend durch die musikalische Umsetzung. Der junge, gerade zum neuen Generalmusikdirektor gekürte Dirigent Daniele Rustioni gibt eine glänzende Visitenkarte ab. Mit sicherem Gespür für den französischen Romantikstil arbeitet er Details und Orchesterfarben heraus, beachtet die dynamischen Vorgaben akribisch und sorgt für eine enorme Innenspannung, ohne dass er dabei den musikalischen Fluss aus den Augen verliert. Solisten, Chor und das Orchester mit wunderbaren Bläsern reagieren auf diesen Pultmagier mit Höchstleistungen.
Die Sänger sind mit einer Ausnahme Rollendebütanten. Nikolai Schukoff leiht dem Eléazar einen heldischen und gleichzeitig flexiblen Tenor und gewinnt ihm gestalterisch tragische Dimensionen ab. Als Leopold imponiert Enea Scala durch die Mühelosigkeit, mit der er die enormen Höhen seiner Partie erklimmt. Roberto Scandiuzzi, der einzige mit Rollenerfahrung, veredelt die Glaubensstarre des Kardinal Brogni mit erzener Bassgewalt. Den dritten Akt dominiert Sabina Puértolas als Prinzessin. Mit funkelnden Koloraturen und sinnlicher Ausstrahlung demonstriert sie Verführung pur. Die vokale Krone aber gebührt Rachel Harnisch, deren traumschöner Sopran in jeder Lage ebenmäßig fließt. Mit welcher Inbrunst und Kultiviertheit sie die Rachel singt, das hat Ausnahmecharakter.
Jubel am Ende der vierstündigen Vorstellung. Zwei große Premieren an zwei Tagen und beide auf ihre Weise gelungen – das ist eine stolze Bilanz beim Festival Pour l’humanité in Lyon.
Karin Coper