Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
„SUDDENLY EVERYWHERE
IS BLACK WITH PEOPLE“
(Marcelo Evelin)
Besuch am
11. Juni 2016
(Premiere)
Plötzlich ist überall schwarz mit Leuten – dieser etwas kryptische Titel erschließt sich schnell, wenn der „Versuchsaufbau“ klar wird. Dennoch irritiert die Überschrift „Suddenly Everywhere is Black with People“ zur Arbeit von Marcelo Evelin, weil sie auf die formalen Gegebenheiten abhebt. Und die sind eher egal, weil man ohnehin so gut wie nichts sieht. Auch geht es Evelin eher um Prozesse als Strukturen.
Auch am zweiten Tag des Projeto-Brasil-Festivals dreht sich die Premiere um Gruppe, Gemeinschaft, Nähe. Dicht gedrängt stehen die Besucher im engen Flur vor dem Kleinen Saal. Der Einlass findet über den Seiteneingang statt. Bereits im Flur davor ist es stockfinster. Im Bühnenraum sind in Hüfthöhe Streben aufgehängt, in die Neonröhren eingelassen sind. Die Streben ergeben so etwas wie einen Ring, eine Arena. Hinter den Streben ist ein schmaler Gang freigeblieben, vorgesehen ist aber, dass das Publikum in den Ring steigt. Das Licht ist gegen Null heruntergedimmt. Und während sich das Publikum noch in der Arena sammelt, bewegt sich eine dunkle Masse durch den Raum. Es sind fünf Tänzer, die ineinander verkeilt durch den Saal streben, stark, mit stampfendem Schritt. Die Richtung wird häufig gewechselt, ist nicht vorhersehbar. Sie sind nackt und vollständig schwarz angemalt.
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Und genau darum geht es dem Choreografen. „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes“, zitiert Evelin aus dem Werk Masse und Macht von Elias Canetti. Die Tänzer der Compagnie Demolition Incorporada sollen nicht gesehen werden. Sie sollen als Bewegung wahrgenommen werden, als das Unbekannte, das unberechenbar mit dem Publikum in Interaktion tritt. Dass die Tänzerinnen und Tänzer aus fünf verschiedenen Nationen stammen und damit eine mögliche örtliche Zugehörigkeit aufheben – geschenkt. Wichtiger ist, dass sie sich als Rudel in kontinuierlicher Bewegung befinden. Die Tempi wechseln bis zu Windungen auf dem Boden. Das Publikum versucht, die Geschehnisse zu verfolgen. Weil aber kaum etwas zu erkennen ist, wenn die Gruppe beispielsweise am Boden liegt, bildet sich sofort ein dichter Ring von Zuschauern um die Tänzer. Von außen betrachtet, entsteht der Eindruck von Gaffern, die sich an einer Unfallstelle sammeln. Und hier liegt der Fehler im „Versuchsaufbau“. Das Publikum hat keine Angst vor dem Unbekannten, weil es sich im gesicherten Raum bewegt. Stattdessen versucht es, die „Handlung“ zu lesen und wird dazu in die Gaffer-Haltung gezwungen. Das ist mehr als bedenklich, wenn man derart manipulativ mit dem Publikum umgeht.
Deshalb funktioniert auch der dröhnende Ton nicht, der im Laufe der 50 Minuten dauernden Aufführung anschwillt. Im geschützten Raum des Tanzhauses, in dem die Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung glücklicherweise gegen Null geht, unterstreicht er eher die Eintönigkeit.
Unmut macht sich breit. Das Publikum spaltet sich in diejenigen, die versuchen zu verstehen, was die Tänzer ihnen sagen wollen und deshalb die Nähe suchen, und diejenigen, die sich hinter die Absperrung zurückziehen, um das Gesamtgeschehen besser verfolgen zu können. Letztere haben die bessere Entscheidung getroffen. Erstere werden entdecken, dass die zufälligen Berührungen mit den Tänzern schwarze Folgen haben. Das edle, italienische Designer-Hemd, das man anlässlich des Besuchs eigens aus dem Kleiderschrank gezogen hat, ist nach der Aufführung geschwärzt. Da hilft erst mal auch der Hinweis wenig, dass die Farbe „in der nächsten Wäsche ganz leicht wieder rausgeht“. Es hätte sich gehört, im Vorfeld darauf hinzuweisen. Passt aber irgendwie zur Grundhaltung.
Wer nach dem choreografischen Ansatz sucht, findet die Botschaft, dass der einzelne ohne den Gruppenzusammenhalt nicht bestehen kann und die Gruppe erst in der friedlichen Vereinigung zur Ruhe kommt. Eine Erkenntnis, die jetzt nicht wirklich so neu ist, aber – immerhin – einen Bezug zu den derzeitigen brasilianischen Bedürfnissen herstellt. Um den Zusammenhang zum vorangegangenen Abend zu bedienen: ordem steht im Vordergrund, nicht progresso. Die brasilianische Gegenwartsgesellschaft braucht sich derzeit keine Gedanken über den Fortschritt zu machen, sondern muss erst mal wieder Halt in sich, die Ordnung in der Gemeinschaft finden.
Als das Licht heller wird, verschwinden die Akteure durch die Seitentür. Freundlich gemeinter Applaus erlischt schnell, als die Tänzer nicht mehr auftauchen. Mit dieser letzten Respektlosigkeit gegenüber dem Publikum darf sich diese fünf Jahre alte Arbeit dann auch getrost in den Giftschrank der Tanzgeschichte verabschieden. Merke: Verdunkelungstaktiken haben beim Tanz noch nie geholfen.
Michael S. Zerban