Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto (ähnlich der Aufführung) © Sammi Landweer

Aktuelle Aufführungen

Vom Kaffee zum Kurkuma

FOR THE SKY NOT TO FALL
(Lia Rodrigues)

Besuch am
10. Juni 2016
(Premiere)

 

 

Nun startet es also auch in Düsseldorf: das Projeto Brasil, Festival für den zeitgenössischen brasilianischen Tanz, das zeitversetzt auch in Dresden, Hamburg, Berlin und Frankfurt gezeigt wird. Unter einem guten Stern steht das Festival nicht. Denn mit „Ordem e progresso“ – Ordnung und Fortschritt haben sich die Brasilianer auf die Fahne geschrieben – ist es in Brasilien nicht mehr weit her. Seit der Entmachtung der demokratisch gewählten Ministerpräsidentin Dilma Rousseff herrscht Krisenstimmung, und mit der Schließung unter anderem des Kulturministeriums sehen sich die brasilianischen Künstler als Kämpfer des Widerstands. Bei der Choreografin Lia Rodrigues war das nur ein kleiner Schritt, weil sie ihre Arbeit ohnehin als politisches Wirken sieht. Vor mehr als einem Jahrzehnt entschied sie sich, ihr Probenzentrum nach Maré zu verlegen, eine der größten Favelas von Rio de Janeiro.

Jetzt präsentiert sie ihre neueste Arbeit For the Sky not to Fall – Damit der Himmel nicht herabfällt – die im Mai ihre Uraufführung in Dresden feierte. Im großen Saal im Tanzhaus NRW ist der Vorhang gefallen, die Tribüne ist verwaist. Das Publikum wird auf die Bühne geleitet, die schwarz verhängt ist. Während sich die Besucher versammeln, schreiten zehn Tänzer und Tänzerinnen hin und her und verteilen verschlossene Kisten an den Bühnenrändern. Schließlich sammelt sich das Ensemble in Reihe vor der rechten Seitenbühne. Entkleidet sich, häuft Kaffeepulver, schöpft es mit beiden Händen und bläst in die vor das Gesicht gehaltenen Hände. Anschließend reiben die Akteure ihre Körper mit dem Pulver ein. Solchermaßen parfümiert treten sie im vom Schweigen erfüllten Raum dicht an einzelne Besucher heran, durchbrechen bewusst die Intimzone und halten direkten Augenkontakt. Die Besucher halten dem Stand und durchbrechen so möglicherweise die beabsichtigte Wirkung. Das Ensemble durchpflügt die Menge, um sich am Ende mit weißem Pulver zu besprühen. Das Ganze ist langatmig, schweigsam und ziemlich langweilig. Das Spannendste in den ersten 45 Minuten ist wohl das undurchsichtige Lichtdesign von Nicholas Boudier, der allein mit Schattierungen von Weißlicht arbeitet. Immerhin sind im dritten Durchlauf Geräusche, Klänge, Schreie, so etwas wie Gesang zu hören.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Im zweiten Drittel kleiden die Tänzer sich teilweise wieder an, tragen Maske auf, in aller Ruhe. Und endlich zeigen die zehn Tänzerinnen und Tänzer, die das Volk der Yanomami im Amazonas-Gebiet repräsentieren, was brasilianischer Tanz sein kann. Stampfende Rhythmen werden für 25 Minuten im Formationstanz gezeigt. Das ist so intensiv, dass einem der Atem wegbleibt. Hätte es gleich so begonnen, wären der Euphorie kaum Grenzen zu setzen. Hier ist Tanzkunst auf höchstem Niveau zu sehen. Große Anspannung, Trauer, Entsetzen, Leid in den Gesichtern, selten mal ein Lächeln, finden sich die aus der Reihe Tanzenden immer wieder in die Gemeinschaft ein.

Foto (ähnlich der Aufführung) © Sammi Landweer

Schließlich ziehen sich die Tänzer erneut zu ihren Kästen zurück, verteilen kleine Kurkuma-Häufchen im gesamten Raum, reiben sich mit dem gelben Ingwer ein und legen sich, vom mildwürzigen Geruch neutralisiert, zu Boden. Der Zuschauer bleibt ein letztes Mal irritiert zurück, als das Licht endgültig erlischt.

Zwischen kommerziellen Aspekten wie dem Exportschlager Kaffee und dem Massenprodukt Kurkuma liegt die Gemeinschaft, in der der einzelne seiner Individualität frönen darf – eine These, die vielleicht weniger mit Brasilien als mit der Weltgemeinschaft zu tun hat. Das Projekt Brasilien beginnt vielversprechend. Dass am Anfang und am Ende die Langeweile obsiegen, gehört wohl zur Natur der Sache.

Das Publikum ist begeistert und feiert zudem das Manifest, das Lia Rodrigues am Ende vorträgt. Im Foyer gibt es dann noch Caipirinha – so ganz nebenbei überholen deutsche Klischees die brasilianische Wirklichkeit. Gut gemeint ist eben doch nicht immer gut gedacht.

Michael S. Zerban