Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Totenmesse am Reformationstag

MESSA DA REQUIEM
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
31. Oktober 2015
(Einmalige Aufführung)

 

 

Konzertchor Ratingen, Stadthalle

Der Reformationstag ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn wir die eigene Kultur nicht an die Jugend weiter vermitteln. Statt des Beginns der lutherischen Reformation oder ihres Sinns zu gedenken, gibt es heute „Süßes oder Saures“. Wenn Bastelanleitungen für Kürbisse im Fernsehen „hipper“ sind als Diskussionen über gelebten Glauben, dann ist das nicht „mainstreamiger“, sondern ein ernstzunehmendes Signal, dass eine Gesellschaft sich in eine falsche Richtung entwickelt. Ebenfalls einen Kulturbruch beging Giuseppe Verdi am 22. Mai 1874 in der Kirche San Marco zu Mailand. Da wurde seine Messa da Requiem für den von ihm hoch verehrten Dichter Alessandro Manzoni uraufgeführt. Allerdings folgte die Komposition dieser Totenmesse nicht mehr dem liturgischen Gebrauch, sondern entstand für konzertante Aufführungen. Das Oratorium wurde weltlich und damit für mehr Menschen zugänglich. Eine Entwicklung in die richtige Richtung. Und für Verdi eine großartige Gelegenheit, in der Auftragsarbeit der Stadt Mailand die ganze Bandbreite seines Könnens zu beweisen.

Auf die hat sich der Konzertchor Ratingen jetzt eingelassen. Seine etwa 70 Sängerinnen und Sänger hat er um 30 Gäste aufgestockt, ein 67-köpfiges Orchester, die Sinfonietta Ratingen, an seine Seite geholt und vier Solisten engagiert. Und so ist nicht nur der Saal der Stadthalle bis auf den nahezu letzten Platz besetzt, sondern auch auf der Bühne jeder Zentimeter genau eingeteilt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ein solch gewaltiges Volumen zu beherrschen, hat sich Chorleiter und Dirigent Thomas Gabrisch zum Ziel gesetzt. Und am Ende der Aufführung ist ihm anzusehen, dass er einen gewaltigen Kraftakt hinter sich gebracht hat. Denn Verdi hat in seinem 75-minütigen Werk nicht den Trost der Hinterbliebenen in den Vordergrund gestellt, sondern das Drama des Sündenfalls gestaltet. Nach dem hymnischen Einstieg ins Requiem beginnt ein gewaltiger Dies irae, der Chor, Orchester und Solisten gleichermaßen fordert – vor allem aber den Dirigenten, der die Balance zwischen den verschiedenen Gruppen finden und halten muss. Ein Tosen soll es sein. Bei gleichzeitiger Transparenz in der Darstellung einer wunderbar eindrucksvollen, differenzierten Musik. Gabrisch gelingt das unter vollem Körpereinsatz, allerdings auf Kosten der Textverständlichkeit.

40 Minuten lang fesseln Musiker und Sänger das Publikum und lassen ihm den Tag des Zorns angedeihen. Dann: Pause. Pause. Pause. Annähernd eine Stunde lang. Da ist dann wirklich jede Kontemplation beim Teufel.

Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Um die Konzentration kämpfen auch die Solisten. Entweder ist der lateinische Text mit seinen vielen Legati besonders schwierig zu singen, um nicht zu sagen, kaum beherrschbar, oder es wird mangelnde Vorbereitung mit Textunverständlichkeit kaschiert. Fehlende Vorbereitung wäre zumindest bei zwei der Solisten entschuldbar. Sopranistin Natalie Karl ist für die erkrankte Netta Or, Roman Astakhov für Wilhelm Schwinghammer eingesprungen. Alle vier haben ihre Notenblätter fest im Blick. Karl singt sich lyrisch schön durch die Höhen, ohne das nötige Volumen in den geforderten Passagen aufzubringen. Ihre Sternstunde ist das Libera me. Eva Vogel absolviert den Part des Mezzosoprans vor allem im Lagenwechsel sehr gekonnt. Und es ist gar nicht nachvollziehbar, warum das mit solch abweisender Mimik geschehen muss. Als Tenor bleibt Jussi Myllis, Ensemblemitglied der Deutschen Oper am Rhein, eher unauffällig. Astakhovs Bass bleibt formschön auch gegen das Orchester bestehen. Und kurios: Zu den schönsten Stellen des Abends gehören Chor und Kanon der Solisten.

Was die Leistungen von Chor und Orchester nicht schmälern soll. Die Sinfonietta glänzt mit einer Transparenz, die die Verdische Dramatik voll und ganz durchdringt, während der Chor existenzielle Grundstimmungen einfängt und wiedergibt.

Nach einem letzten „Libera me, Domine“ ist der Befreiungsschlag gelungen und das Publikum restlos begeistert. Selbst die älteren Herrschaften – es sind überwiegend ältere Herrschaften anwesend – wollen im Stehen allen Beteiligten lang und herzlich applaudieren. Für dieses Jahr übrigens zum letzten Mal. Das nächste Chorkonzert steht Ende April kommenden Jahres an. Dann wird es Wolfgang Amadeus Mozarts Missa c-Moll und John Rutters Mass of the Children sein.

Michael S. Zerban