Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Nicola Oberlinger

Aktuelle Aufführungen

Freude auf den Tod

ICH HABE GENUG/OMEGA
(Johann Sebastian Bach/Martin Bechler)

Besuch am
12. März 2016
(Premiere am 11. März 2016)

 

Kölner Fest für Alte Musik,
Trinitatiskirche

Der Tod hat in unserer Gesellschaft einen festen Platz, sollte man meinen, ist er doch aus Literatur, Kino, TV und auch von der Opernbühne kaum wegzudenken. In unserer Lebensrealität beschäftigen wir uns eher ungerne mit diesem für viele unangenehmen, wenngleich unabwendbaren Lebensereignis.

Im Rahmen des Festes für Alte Musik in Köln wollen die Veranstalter an den Erfolg einer szenischen Aufführung der Johannespassion im letzten Jahr anknüpfen. Dieses Jahr steht die Kantate Ich habe genug von Johann Sebastian Bach im Mittelpunkt. Die behandelt das willkommen heißen des Todes allgemein, konkret: dem irdischen Leiden zu entkommen und mit Jesus vereint zu werden. Kein einfaches Thema für eine szenische Umsetzung. Für die treffen 15 Schüler und Schülerinnen der Offenen Schule Köln und fünf Mitglieder des Experimentalchores 70+ in den Proben aufeinander, um sich über den Tod auszutauschen. Ergebnisse dieser projektbezogenen Herangehensweise sind in Form von erarbeiteten Texten und szenischen Details mit in die Aufführung übernommen worden. Unter der Anleitung von Regisseurin Frauke Meyer hat sich diese Gruppe von unterschiedlichen Menschen zu einem Ganzen entwickelt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Schauspieler Torsten Peter Schnick eröffnet den Abend, indem er über die längliche Bühne in der Trinitatiskirche schlendert, auf der etwa in Brusthöhe eine Reihe mit Mikrofonen von der Decke hängt. Auf dem Boden liegen Papiere, die Schnick aufsammelt und zitiert: Dokumente eines durchschnittlichen Lebens, vom Arbeitsamt, der Stadt Köln und Zahlungsaufforderungen der Gebühreneinzugszentrale. Sänger Seth Carico sitzt an einem Ende der Bühne beim Orchester und beobachtet Schnick mit einem warmen Lächeln. Schnick scheint irritiert, etwas neben der Spur zu sein, sein Blick ist unstet, wandert in die Ferne. Er begrüßt den in schwarz gekleideten Sänger, scheint ihn aber nicht einordnen zu können.

Thorsten Peter Schnick und Seth Carico - Foto © Nicola Oberlinger

Eigentlicher Ausgangspunkt ist ein Leichenschmaus. Die Schüler tragen gemeinsam mit den Lebenserfahrenen Tische, Stühle, Gedecke und Platten mit Brötchen auf die noch leere, nur mit jeweils doppelten hängenden Mikrofonen ausgestatteten  Bühne in der Mitte der Kirche. Alles geht in einem getragenen Tempo vonstatten, die Abfolge hat beinahe etwas Choreografiertes an sich. Ein Bruch in der Musik, eine plötzliche Pause. Alle verharren still. Dann erklingen die ersten Takte des zweiten Stückes, das am heutigen Abend eine Rolle spielt: Omega von Martin Bechler. Eine aus den Streichern kommende, leicht dissonante Stimmung baut sich auf, darüber legt sich die klare Oboe, abgedunkelt von der mächtigen Orgel. Eine wirkungsvolle Stimme hat diese Musik, als würde sie sprechen wollen, trauernd, mit tröstenden Melodien in der Weiterführung. An der langen Tafel sitzen Alt und Jung zusammen, und jeder darf erzählen, wovon er genug hat. Da ist ein Schulweg zu lang, Vorschriften der Erwachsenen schränken ein, dunkle Wolken für Louis. Man merkt, es prallen Welten aufeinander. Die Kinder sind traurig, die Älteren streicheln ihnen tröstend über den Rücken, man tauscht Meinungen in Form von Statements aus. Der Leichenschmaus entwickelt sich zu einem kontroversen und toleranten Diskurs über den Tod, Sterbehilfe, die Vorstellung vom Leben nach dem Tod, Angst vor einem schmerzerfüllten Ende und dem Trost, der die Trauer begleitet, den Verlust einfacher macht. Schnick ist stiller Beobachter des Geschehens, sitzt manchmal mit am Tisch, streicht über Köpfe, drückt Hände. Er wird nicht wahrgenommen und bald wird klar: Es ist seine Beerdigung, er selbst ist verstorben, er ist Gegenstand der Trauer. Die Erkenntnis trifft ihn zunächst, er sucht Trost in einer Umarmung des wie ein sanfter Engel autretenden  Carico, der mit dem Zamus-Ensemble die göttlich schöne Musik Bachs über die Szene hinweg gleiten lässt. Wirklich interessant sind die Lieder Bechlers, die von den einzelnen Gruppen, einmal der Älteren und der Jüngeren gesungen werden. Nicht nur wirkungsvolle, eindringliche Texte fügen sich nahtlos ein, sondern auch eine stilistische Näherung an den Meister Bach bettet Bechlers Musik in den Kontext des Abends. Die ganze Stimmung ist wie zum Anfassen gespannt, in der Luft liegt so viel Wohlwollen, das sich auch auf den Gesichtern der Beteiligten spiegelt. Besonders schön gelingen die Momente, in denen sich die Trauer in Hoffnung wandelt und das Schöne im Leben sich in Dankbarkeit äußert: „Einmal noch lieben“, „Ich liebe Klavierspielen“, „Ich mag Fußballturniere gewinnen“ – „Und Spazierengehen.“ Chapeau an alle Darsteller, vom eloquenten Profi Schnick, der so viel Weichheit zulässt und an die Laien, die dem Publikum persönliches Gefühl schenken. Es bleibt eines vom Abend zurück: Spürbare Lebensfreude und Glück. Wunderschön.

Junge Menschen mit erfahrenen Älteren zusammenzubringen, die gemeinsam einen Weg zum Thema Tod erarbeiten, ist eine wunderbare Idee. Hier prallen Gegensätze aufeinander – die weisen, lebenserfahrenen Älteren, die ein volles Leben hatten und heute genau wissen, was sie wollen, und die jungen Menschen, die sich noch finden, aber von den Senioren viel zu lernen wissen. Wahrscheinlich ist es die Realität der Erfahrung, die die szenische Umsetzung so greifbar, die Emotionen so spürbar macht. Eine tolle Leistung von Frauke Meyer, die Details zum Leben erweckt, und ihrem Team: Uta Materne und Rupert Franzen zeichnen für Bühne und Kostüm verantwortlich – die Ausnutzung der örtlichen Gegebenheiten und auf den Punkt eingesetztes Licht runden den Abend ab.

Ein Punkt, den Fans von alter Musik wahrscheinlich etwas stutzig macht, war die Einbindung der Neuen Musik in die Bachsche Kantate, die sich vor dem Meister verbeugt und trotzdem einen eigenen Weg beschreitet. Doch die neuen Elemente bestehen neben dem Alten: nur beide zusammen bilden eine musikalische Bandbreite, die sich auf der Bühne mit Reife und Frische wiederfindet.

Und die Musik, ach die Musik … Das Zamus-Ensemble zaubert unter der Leitung von Xenia Löffler, die zugleich die Oboe erhaben spielt, nicht nur die Kantate Bachs in die leicht hallende Atmosphäre der Trinitatis-Kirche, sondern auch die intensiven Klänge Bechlers. Unterstützt wird Löffler von Evgeni Sviridov, Anna Dmitrieva an der Violine, Aiono Hildebrandt an der Viola, Leonhard Bartussek am Violoncello, Miriam Shalinsky am Kontrabass und Michael Borgstede an der Orgel. Ein echter Hochgenuss! Bariton Seth Caricos schöne Stimme ist eher an der Opernbühne geschult, jedoch ist gerade diese Intensität und Kraft voller Leben und steht so gegen die Aussage der Kantate – voll Trost perlt sein Gesang auch in den leisen Momenten, und sein Spiel ist voller Mitgefühl.

Das Publikum ist aufmerksam und ruhig. Man kann unter anderem genießerisch geschlossene Augen und Kopien mit dem Text der Kantate in den Händen sehen. Nachdem das Licht ausgeht, scheint es fast unerträglich lange ergriffen still zu sein, bevor Applaus und Jubel den Künstlern den verdienten Respekt zollen.

Miriam Rosenbohm