Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Eike Walkenhorst

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Staatsgründungen und Ausnahmezustände

CHEMO BROTHER
(Eleftherios Veniadis)

Besuch am
30. April 2016
(Uraufführung)

 

 

Deutsche Oper Berlin, Tischlerei

Was früher die Tischlerei der Deutschen Oper Berlin war, hat sich seit drei Jahren in eine Studiobühne mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmusiktheater verwandelt. Neue Formen und Experimente werden hier präsentiert, auch Nachwuchskünstler können sich in größerem Rahmen erproben. Die zwei jüngsten Produktionen stehen exemplarisch für beide Ansätze, haben aber das gleiche Ziel, Teenager für Oper zu interessieren.

Knapp fünfzig jugendliche Flüchtlinge und Berliner, viele von ihnen ohne jegliche Bühnenerfahrung, bilden das Ensemble von Neuland, das im April Premiere feierte. Sie haben sich in drei Monaten intensiver Probenarbeit inklusive vorangehender Workshops zu einer multikulturellen, vor Energie berstenden Theatertruppe zusammengeschweißt und dabei zusammen mit den Regisseuren Martin G. Berger und Jonas Egloff einen utopischen Staat mit neuer Sprache, eigenen Normen und Gesetzen kreiert. Das Publikum wandelt durch die Tischlerei, die Sarah-Katharina Karl zu einer suggestiven Raumlandschaft voller überraschender Einblicke umgestaltet hat. In Spiel-, Tanz- und Gesangsszenen und Filmsequenzen, aber auch in Interaktionen werden den Besuchern die Gebräuche und Regeln dieses Staates vermittelt, die sphärische Musik der Komponistenbrüder Ketan und Vivan Bhatti unterstreicht die irreale Atmosphäre. Das Ergebnis ist ein Ausflug in eine andere Welt, bei dem die Zuschauer erfahren, wie es sich anfühlt, fremd zu sein, aber genauso, welch verbindende Wirkung Kultur hat.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die aktuelle, nur zwei Wochen später herausgekommene Produktion der Tischlerei bestritt das Musiktheaterkollektiv Glanz & Krawall, das seit seiner Gründung 2014 mit einigen ungewöhnlichen Inszenierungen aufgefallen ist. So versetzte die Truppe um Regisseurin Marielle Sterra und Dramaturg Dennis Depta Monteverdis Orfeo in eine psychiatrische Klinik, während sie Carmen radikal reduzierte und nur eine Schauspielerin, begleitet von einem Kinderinstrumenten-Orchester, auftreten ließ.

Foto © Eike Walkenhorst

Chemo Brother, die neueste Arbeit des Kollektivs, behandelt ein ernstes Thema. Die Tischlerei, für deren Ausstattung gleich drei Bühnenbildner genannt werden – Günter Hans Wolf Lemke, Michael Glowski und Kim Scharnitzky, letztere ist auch für die Kostüme verantwortlich – ist nun Wohnung und Krankenhaus zugleich. Das Publikum sitzt vor einer Metallwand mit mehreren Türen, die je nach Szene herunterklappen. Dahinter werden mal Klinik, Mädchenzimmer oder Garage sichtbar, ein angedeutetes Zimmer befindet sich gegenüber. Zur stilistisch bunten Musik von Eleftherios Veniadis und elektronischem Sound von Arne Nitzsche erzählt Librettist Mehdi Moradpour anschaulich und bisweilen amüsant, wie sich das Teenagerpaar Frida und Luca auf das „erste Mal“ vorbereitet. Doch während der Junge sein Zimmer für das Rendezvous herrichtet, erhält er die Nachricht, dass sein Bruder an Krebs erkrankt ist. Wie seine Vorfreude in gegenteilige Emotionen umschlägt, wie die Umwelt unterschiedlich reagiert, das setzt Sterra szenisch präzise, feinfühlig und mit ein bisschen surrealem Touch um. Sie kann dabei auf ein äußerst begabtes Solistentrio bauen. Neben Kay Liemann, der den Luca rührend in seiner Aufregung verkörpert, und Enrico Wenzel, der die Diagnose des Arztes mit sonorem Bass stellt, beeindruckt vor allem Angela Braun in einer Doppelrolle. Sie spielt die Frida wunderbar lässig, überzeugt dann gleichermaßen als geschockte Mutter und lässt zudem einen vollen Sopran hören, der einiges für die Zukunft verspricht.

Auf unterhaltsame Weise regen beide Produktionen zum Nachdenken an. Spannend verspricht auch das letzte Jugendprojekt der Saison Anfang Juli zu werden. In Das große Spiel werden Jugendclub, Kinder- und Jugendchor Emilio de‘ Cavalieris Barockoper Rappresentatione di anima et di corpo neu interpretieren.

Karin Coper