Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Alle Fotos © Monika Rittershaus

Aktuelle Aufführungen

Ach, Europa

IL VIAGGIO A REIMS
(Gioacchino Rossini)

Besuch am
3. Januar 2016
(Premiere am 6. Dezember 2015)

 

 

Opernhaus Zürich

Opern mit unsinniger Handlung ist man gewöhnt – bei Il Viaggio a Reims handelt es sich hingegen um eine Oper (fast) ohne Handlung: Eine Reisegesellschaft von einigermaßen individuellen Charakteren auf dem Weg zu einer europäischen Krönungsfeierlichkeit landet in einem Hotel in der Provinz und ergeht sich in Alltags-, Liebesbetrachtungen und -beziehungen sowie Liedern und Hymnen auf ihre europäischen Heimatländer und das friedliche Zusammenleben der Nationen. Am Schluss ertönt eine Hymne auf den neugekrönten König Karl X, zu dessen Ehren das Werk komponiert wurde. 

Die Oper wurde 1824 zur Krönung des Königs uraufgeführt und erlebte seinerzeit nur vier Aufführungen. Rossini selbst hat das Werk zurückgezogen und wesentliche Teile in nachfolgenden Werken, insbesondere der Oper Le Comte Ory, verwendet.

In den 1980-er Jahren wurden Originalmaterialen der Oper wiederentdeckt und in einer neuen kritischen Ausgabe herausgebracht, die auch der herausragenden CD-Aufnahme unter Claudio Abbado aus dem Jahr 1985 zugrunde lag.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die inhaltlich und musikalisch immer wieder in sich selbst kreisende Handlung und Musik bildet eine prächtige Grundlage für Christoph Marthaler. Zunächst ist die Entourage dieser europäischen Gemeinschaft von skurrilen Individualisten in Bühnenbild und Kostümen von Anna Viebrock im Bonner Kanzlerbungalow zu erleben, der aktuell als eine Mischung aus Grand Hotel, Sanatorium oder Wellness-Oase dient. Man kann die Beteiligten entweder bei der Anleitung zum schonenden Wellness-Erlebnis oder bei der Einweisung zur geeigneten Schönheitsoperation bewundern. In Teilen wirkt das Miteinander von Hotelgästen und ärztlich-psychologischem Fachpersonal wie die Anleitung zur Lebensunfähigkeit. Die Kostüme der Hotelgäste folgen stilistisch der Gesellschaft in Buñuels Der diskrete Charme der Bourgeoisie. Trotz ihrer Belanglosigkeit werden die Aktivitäten zeitweise angestrengt vom Geheimdienst in der oberen Etage abgehört. 

Foto © Monika Rittershaus

In allen sichtbaren Räumen sind Bilder europäischer Würdenträger, also insbesondere Politiker, Sportfunktionäre wie Sepp Blatter und kirchliche Amtsträger zu sehen. Alle Bilder stehen am Boden, und es wird nicht gänzlich klar, ob sie aufgehängt werden sollen oder gerade abgenommen wurden.

Ariose Teile spiegeln die Selbstverliebtheit und Fokussierung auf Nichtigkeiten wider, während die Ensembles Solisten und Chor in tranceartige Choreographien mit ungewissem Ausgang versetzen wie zum Beispiel bei dem unnachahmlichen Versuch der Gäste angesichts der erwarteten Abreise, den richtigen Mantel zu finden, in ein unablässiges Mantelanzieh- und -wechselspiel der Beteiligten mündet, das nichts anderes als den Stillstand des Wartens demonstriert.

Es gibt vielerlei scheinbar bedeutende Ankündigungen, die an mit EU-Fähnchen gekennzeichneten Rednerpults stattfinden, sowie scheinbar bedeutsame Rituale von Vertragsunterzeichnungen. Dabei ist stets klar, dass es in erster Linie um die Einhaltung der äußerlichen Form geht, nicht die Inhalte – Marthalers szenische Umsetzung des Auseinanderdriftens der mühsam errichteten Staatengemeinschaft, wie er selbst erklärt.

Diesen geisterhaften Stillstand scheinen die Akteure im Laufe der Handlung sukzessive wahrzunehmen, ohne auf den Gedanken zu kommen, ob und was man dagegen unternehmen könnte. Die Wahrnehmung scheint sich zum Schluss hin in eine große Verunsicherung zu steigern, als Teile eines abgestürzten Flugzeuges hereingetragen werden, die zusammen mit dem ängstlich zusammengerückten Darstellerkollektiv das Schlussbild formen.

Die im Schlussgesang der Künstlerin Corinna vorgetragene Huldigung auf das gekrönte Haupt und Frankreich sowie die gemeinsame Hymne aller dazu wird auf der Übertitelungsanlage mit dem Kommentar „Vorübergehende Librettostörung“ begleitet. Spätestens hier ist jeder Bezug zu einer inhaltlichen Komponente ausgeschaltet – Beschwörung pur. Wie kommt Europa da wieder raus?

Ein Grund für die wenigen Aufführungen des Werkes zur Entstehungszeit mag die Notwendigkeit der großen Zahl von hochkarätigen Solisten gewesen sein – die Oper Zürich kann sie alle bieten, war zusätzlich am Tage der Aufführung auch noch durch Krankheitsfälle mit Umbesetzungen gefordert. So übernimmt Sunnyboy Dladla die Partie des Conte di Libenskof, die er zehn Jahre zuvor schon einmal in Südafrika gesungen hatte und die er in nur drei Stunden in einem anspruchsvollen Regiekonzept „drauf haben“ muss – was bestens gelingt. Ganz herausragend auch die Leistung von Rebecca Olvera, die zwar immerhin die Inszenierung durch die Mitwirkung in der Rolle als Modestina kennt und die Contessa di Folleville derart gesanglich formschön und sensibel präsentiert, als ob sie nie eine andere Rolle in dieser Produktion gesungen hätte – brava!

Rosa Feola als Corinna, Anna Goryachova als Marchesa Melibea und Serena Farnocchia als Madama Cortese führen die ausgezeichnete Damenriege an und Edgardo Rocha als Cavaliere Belfiore, Nahuel Di Pierro als Lord Sidney, Scott Conner als Don Profundo sowie Yuriy Tsiple als Barone die Trombonok stehen ihnen in keiner Weise nach. Eine großartige Solisten- und zugleich Ensembleleistung.

Der Chor unter der Einstudierung von Ernst Raffelsberger singt und spielt vorzüglich.

Die Philharmonia Zürich unter Daniele Rustoni präsentiert sich klangschön in stilistisch sicherer Form und begleitet die Sänger sorgfältig und einfühlsam.

Das Publikum genießt den zweideutigen Spaß auf den Stillstand Europas sichtlich und applaudiert herzlich, nicht ohne den Einspringern besonders herzlich zu danken.

Achim Dombrowski