Opernnetz

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Foto © Jef Rabillon

Aktuelle Aufführungen

Das Ensemble ist der Star

LE COMTE ORY
(Gioacchino Rossini)

Besuch am
6. März 2016
(Premiere am 9. Dezember 2012)

 

 

Opernhaus Zürich

Am Tag vor der Wiederaufnahme von Gioachino Rossinis Oper Le comte Ory an der Oper Zürich ist Nikolaus Harnoncourt gestorben. Die damit verbundene Trauer rückt ins Bewusstsein, welch überragende, Generationen von Musikern und Dirigenten prägende Persönlichkeit er war. Als großer Erneuerer der historisch informierten Aufführungspraxis hat Harnoncourt Konzert- und Opernaufführungen seit den 1950-er Jahren bis heute stilbildend verändert.

Mit Jean-Christophe Spinosi steht an diesem denkwürdigen Abend ein Dirigent am Pult  des Orchestra La Scintilla, der wie berufen scheint, dem stillen Gedenken an Harnoncourt mit einem von Energie sprühenden, temperamentvollen Dirigat in seinem Geiste Rossinis Musik zum Strahlen zu bringen. Bevor Spinosi den ersten Einsatz gibt, formt er mit Daumen und Zeigefingern seiner Hände ein Herz. Es ist, nach der vom Intendanten des Opernhauses Andreas Homoki mit Zustimmung des Ensembles angezeigten Widmung der Aufführung für Harnoncourt, die letzte symbolische Handlung. Von da an zeigt Le comte Ory in der Wiederaufnahme der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier, was in ihr steckt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Am Ende von Rossinis Opernschaffen – nach 40 Opern in weniger als 20 Jahren beendet er 37-jährig seine Arbeit als Opernkomponist – ist Le comte Ory als vorletzte Oper exemplarisch für einen Aufbruch zu neuen Ufern. Hinter sich die Opera seria lassend, entsteht die, den Kanon der Konventionen sprengende, französisch geprägte Opéra comique als Grand opéra.

Foto © Jef Rabillon

Leiser und Caurier haben Rossinis Oper so inszeniert, als hätte ihnen Harnoncourt beim Studium der Partitur über die Schultern geschaut. Dem Namen nach zwar eine Opéra comique, ist sie es gattungsgeschichtlich nicht mehr. Sprechtexte sind von Rossini als Rezitative orchestriert. Rhythmische Treibkräfte bestimmen die buffonesken Effekte. Vibrierend frivol spürt man in jeder Note  ungebrochene, pralle Lebensfreunde. Bei Leiser und Caurier ist es ein Hör- und insbesondere ein bildgewaltiges Sehvergnügen.

Erzählt wird die Geschichte des Liebesabenteurers Graf Ory nach einem Libretto von Eugène Scribe und Charles-Gaspard Delestre-Poirson. In einem Dorf des 12. Jahrhunderts sind die Frauen allein zuhause. Ihre Männer sind als Kreuzritter unterwegs. Die Gunst der Stunde nutzend, soll die Gräfin Adéle de Formoutiers Graf Orys Amour fou werden. Dass sich sein Page Isolier in die Gräfin verliebt und er damit einen Nebenbuhler hat, wird ihm erst später klar - und zum Verhängnis.

Eigentlich ein perfektes Szenario für eine Verwechslungsgeschichte, die an der Oberfläche bleibt. Dem entgeht die zauberhaft frische Inszenierung in zwei narrativen und opulenten Bühnenbildern von Christian Fenouillat. Im ersten Akt ist ein Wohnwagen am Rande einer Stadt zu sehen. Er dient dem Grafen Ory, der sich als eremitisch lebender Wunderheiler verkleidet hat, als Beratungs- und Verführungskabinett.

Adéle sucht ihn dort zwecks Heilung ihrer Liebessehnsucht auf.  Die geöffnete Wagenfront entpuppt sich als Lusthöhle. „Dieu est amour“ blinkt eine Leuchtschrift. Edgardo Rocha läuft spätestens hier zur Hochform auf. Er gibt den Comte Ory mit clownesker Farbigkeit. Sein klangschöner Tenor ergänzt die spielerische Präsenz der Figur des Grafen Ory auf ausdrucksvolle Weise.

Cecilia Bartoli ist la comtesse Adéle – und sie ist die Bartoli, die alle Aufmerksamkeit per se auf sich zieht. Natürlich strahlt ihr Sopran. Auch ihr komödiantisches Spiel ist Teil der Marke Bartoli. Was diesen Abend darüber hinaus aber auszeichnet und besonders macht, ist eine spielerisch und gesanglich abgestimmte Ensembleleistung von Solisten und Chor. Cecilia Bartoli reiht sich unaufgeregt, ohne auch nur den Schein von Kapriziosität erkennen zu lassen, in ein bis in die kleineren Rollen hervorragend besetztes Ensemble ein.

Herauszuheben ist unter den weiteren Solisten Rebeca Olvera als Page Isolier. Im Terzett De crainte et d’espérance je sens battre mon coeur gestaltet sie mit ihrem geschmeidigen Mezzosopran zusammen mit Bartolis in dieser Szene dunkel raunendem Sopran und dem verführerisch gestimmten Tenor Rochas facettenreich den Höhe- und Schlusspunkt einer abenteuerlichen Verwechslungskomödie, die das Opernpublikum immer wieder zu Lachsalven animiert.

Mit der Überzeugung „No comedy!“ haben Leiser und Caurier die Opéra comique in zwei Akten als ein theatralisches Feuerwerk mit augenzwinkernder Perspektive auf die so genannte sexuelle Befreiung inszeniert. Den historischen Hintergrund der Kreuzzüge transformieren sie kurzerhand in den Algerienkrieg Frankreichs zu Beginn der 1960-er Jahre. Das Libretto selbst ist schon eine Parodie auf die klassische Tragédie. Rossini spielt in seiner Komposition mit Stil und Genre. Seinem Gespür für Theatralik folgt die Inszenierung kongenial nach. Sie parodiert den verklemmten Umgang der bürgerlichen Gesellschaft mit Sexualität.

In der Unwetterszene im zweiten Akt, die Bühne ist jetzt ein bürgerlicher Salon, zeigt die Theatermaschinerie, was in ihr steckt. Blitz und Donner erschüttern die Bühne. Lichtblitze verlöschender Glühbirnen, ein wackelnder Kronleuchter, ein Kreuz, das aus der Halterung fällt: Assoziationsreiche Bilder reihen sich aneinander.
Selten sah man einen Chor in einer bildmächtigeren Choreografie so fulminant spielen und gleichzeitig wunderbar singen wie den der Oper Zürich. Das von Rossini komponierte Spektakel ist in dieser Zürcher Inszenierung im besten Sinne bildmächtig aufgehoben.

Spinosi ist bereits mit den ersten Takten der typischen Rossini-Ouvertüre – von einer kunstvollen Auftaktzäsur mit Crescendo kraftvoll dem Ziel entgegen – der souveräne spiritus rector am Pult. Ausgreifende Armbewegungen übertragen mit tänzerischer Anmut sein Dirigat stilsicher ins Orchestra La Scintilla. Spürbar ist seine Begeisterung, die die Musiker direkt ins musikalische Herz trifft. Noch während der Pause, die andere zur Erholung nutzen, übt eine Holzbläser-Gruppe ad libitum.
Gab es schon zur Pause überschäumenden Jubel, dem sich die Solisten mit einem ersten Vorhang nicht entziehen können, sind sie am Ende nicht mehr zu zählen. Ein großes Rosen-Bukett fliegt Cecilia Bartoli aus dem Parkett zu Füßen. Es ist symbolisch für diesen Abend, dass sie Spinosi mit einer einzelnen, heraus gezupften  Rose den Respekt des gesamten Ensembles zum Ausdruck bringt.

Peter E. Rytz