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Die unschönen Umstände, unter denen Toshiyuki Kamioka, Generalmusikdirektor und Generalintendant der Wuppertaler Bühnen in Personalunion, seinen vorzeitigen Abschied nimmt, versperren ein wenig den Blick auf die Verdienste des Dirigenten, die er sich seit 2004 erworben hat. Der Lack blätterte ab, als er sich hinreißen ließ, die kulturpolitisch kurzsichtige Zerschlagung bewährter Strukturen des einst renommierten Ensembletheaters mitzutragen und kurz darauf seinen vorzeitigen Abgang zu verkünden. Zurück bleibt der Scherbenhaufen eines Stagione-Betriebs, der mit denkbar unterschiedlichen Erfolgen von Produktion zu Produktion taumelt. Eine Herkulesaufgabe für den künftigen Intendanten Berthold Schneider, verlorengegangenes Vertrauen und künstlerische Stabilität zurückzugewinnen.
Unter diesen Umständen kann man erleichtert, wenn nicht verwundert aufatmen, dass selbst eine Herausforderung wie die dreiaktige Fassung von Alban Bergs Opern-Fragment Lulu musikalisch nicht nur glimpflich, sondern in vielen Bereichen geradezu vorzüglich gelang. Insofern verabschiedet sich Kamioka wenigstens mit einer künstlerisch versöhnlichen Botschaft.
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Dass man sich nicht auf die originalen Teile, also die ersten beiden Akte und die Schlussszene des dritten Aktes beschränkt, sondern auf die Rekonstruktion durch Friedrich Cerha zurückgreift, lässt sich, je nach Perspektive, als Harakiri oder als Ehrgeiz deuten. Entleibt hat sich die Wuppertaler Oper mit dieser Aufgabe nicht. Das hat sie schon vor zwei Jahren selbst besorgt. Die Hingabe des Orchesters, das Geschick des Besetzungsbüros und der Einsatz aller Kräfte auf und hinter der Bühne für diese große Aufgabe lässt hoffen, dass es ab der nächsten Spielzeit dauerhaft aufwärtsgehen wird. Auf die Spielplanvorstellung von Berthold Schneider am 20. Mai darf man gespannt sein.
Über den Sinn und Unsinn von Rekonstruktionen lässt sich lebhaft streiten. Friedrich Cerhas unbestritten bemerkenswerte Fleißarbeit stellt das zeitliche Gleichgewicht der drei Akte her. Viel mehr allerdings nicht. Dramaturgisch bringen die langatmigen Streitereien um den Kursverfall der Jungfrauen-Aktien nicht viel, und musikalisch verzettelt sich Cerha in geschwätzige und überladen komplizierte Rededuelle und Ensemblesätze. Das alles klingt kunstvoll arrangiert, aber auch konstruiert. Die emotionale Intensität wird erst wieder in der Schluss-Szene erreicht, wenn originaler Berg den Ton angibt.
So lobenswert die musikalische Gestaltung, so blass und widersprüchlich fällt die Inszenierung durch die ehemalige Götz-Friedrich-Assistentin Beate Baron aus. Szenisch setzt die langjährige Neuenfels-Mitarbeiterin auf ein zirzensisches Umfeld mit optischen Impulsen, die freilich die schwache Profilierung der Figuren nicht überdecken können. Es geht recht deftig auf der Bühne zu, wenn eine Clowns-Statisterie auf die Bühne stürmt und sogar Lulus Diener als Affe posieren muss. Im Prolog wird zwar gepoltert, aber die Zuordnung der vom Zirkusdirektor angekündigten Tiere auf die einzelnen Figuren unterbleibt. Die harren starr im Hintergrund aus, und man muss schon genau hinsehen, um Lulu als die angekündigte Schlange identifizieren zu können. Für eine Regisseurin, die auf die „bildhafte Umsetzung“ der inneren und äußeren Vorgänge Wert legt, wie sie selbst betont, leuchtet diese Zurückhaltung nicht ein. Zumal sie an anderen Stellen nicht an oberflächlichem Mumpitz spart. So, wenn sich der Salon im zweiten Akt in eine Urwaldlandschaft verwandelt, in der sich die Menschen wie Jäger und Gejagte mit Flinten argwöhnisch beäugen. Inmitten der wie putzige Plüschtiere anmutenden Leoparden-Skulpturen und der geheimnisvoll über den Teppich tappenden Figuren wirkt der Dschungel von Elisa Limberg wie eine Waldlandschaft von Räuber Hotzenplotz.
Da wäre es sinnvoller gewesen, die Männerfiguren ebenso genau und scharf zu profilieren wie die weiblichen Protagonisten. Doch die Herren der Schöpfung kriechen in Wuppertal über die Bühne, fallen fast unbemerkt tot um oder stehen verlegen bis nutzlos herum. Ernsthafte Gegenspieler sind sie nicht für eine Frau wie Lulu, die in den Augen von Beate Baron ein geradezu heroisches Selbstbewusstsein an den Tag legt und selbst den eigenen Tod heldenhaft erträgt. Eine Powerfrau ohne naive Laszivität, mehr Täter als Opfer. Das alles führt zu einem vordergründigen Ungleichgewicht zwischen der starken Frau und den dümmlichen Männern, was die aus den Geschlechterkämpfen zu gewinnende Spannung weitgehend eliminiert.
Das zusammengewürfelte Ensemble bewegt sich auf durchweg hohem Niveau. Martina Welschenbach von der Deutschen Oper Berlin steigert sich mit ihrem flexiblen, höhenstarken und jugendlich frischen Sopran in der Titelrolle mühelos durch die anspruchsvolle Partie und bietet auch szenisch eine exzellente Leistung. Das betrifft im Wesentlichen auch die Männer, auch wenn die Herren von der Regisseurin weit weniger liebevoll betreut werden als die Damen. Gesanglich bieten Ralf Lukas als Dr. Schön und Arnold Bezuyen in der halsbrecherischen Tenor-Partie des Alwa ebenso Vorzügliches wie Martin Blasius mit seinem ebenso voluminösen wie kultivierten Bass als ein Schigolch mit ungewohnt feinen Manieren. Ihren Sterbegesang zelebriert Kathrin Göring als Gräfin Geschwitz mit betörendem Mezzo-Balsam. Und auch sonst gibt es keine Ausfälle zu beklagen.
Insgesamt szenisch eine recht oberflächliche Angelegenheit, musikalisch ein Hoffnungsschimmer für die weitere Zukunft des gebeutelten Wuppertaler Opernhauses.
Kamioka unterstreicht mit dem Wuppertaler Sinfonierochester den emotionalen Gehalt des Werks und lässt die spätromantischen Anklänge deutlicher anklingen als die strukturelle Dichte des Zwölfton-Geflechts. Das ist für einen packenden Opernabend durchaus legitim. Und das Wuppertaler Sinfonieorchester präsentiert sich in blendender Form.
Großer Beifall im ausverkauften Wuppertaler Opernhaus, in den sich einige wenige Buh-Rufe mischen. Angesichts des dreieinhalbstündigen, anspruchsvollen Abends verlassen in den beiden Pausen nur wenige Zuschauer vorzeitig die Vorstellung. Allerdings sind nur fünf Vorstellungen der aufwändigen Produktion angesetzt.
Pedro Obiera