Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Falk von Traubenberg

Aktuelle Aufführungen

Zerrissenes Lebensgefühl

DER STEPPENWOLF
(Viktor Aslůnd)

Besuch am
7. Mai 2016
(Premiere)

 

 

Mainfranken-Theater Würzburg

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, das kennt man schon aus Goethes Faust. Bei Harry Haller, dem zutiefst unzufriedenen Intellektuellen und Hypochonder, ist es neben seiner „bürgerlichen“ Seele die „wölfische“, triebhafte Seele, neben dem Rationalen das Irrationale. In einer Phase tiefster Depression hat Hermann Hesse seinen Roman Der Steppenwolf 1927 geschrieben und davor die Bestimmung „Nur für Verrückte“ gesetzt. Gegen die Zerrissenheit seines Helden, der im „Magischen Theater“ von Pablo, dem eigentlich verachteten Jazzmusiker, in der Drogenorgie in visionäre Bereiche vorstößt und ansatzweise seine innere Krise zu überwinden lernt, gibt es ein Rezept: Das Lachen, wohl eher ein Mittel, das Leben, so wie es ist, zu ertragen, auch im Fantastischen und Skurrilen, und so die zweite Natur des Menschen zu akzeptieren. Aber für Harry Haller ist es noch nicht so weit: „Eines Tages werde ich das Lachen lernen“; immerhin hat er sich auf den Weg gemacht.

Damit endet auch Der Steppenwolf, die bilderreiche Oper von Viktor Aslůnd. Der schwedische Komponist, in Berlin lebend, hat mit dem Stoff aus Hesses Roman nach dem Libretto von Rainer Lewandowsky für das Mainfranken-Theater Würzburg, seine frühere Wirkungsstätte als Erster Kapellmeister, ein packendes Musiktheater geschaffen. Gerade durch die Musik kann er die verschiedenen Sphären, in denen sich der unzufriedene, an seiner Existenz leidende Harry Haller bewegt, näherbringen, ebenso die Zerrissenheit seines Helden. Dazu passt, dass er den Zwiespalt von dessen Person auch durch zwei Sänger verkörpern lässt, durch den korrekt und gediegen angezogenen Harry und den etwas wild und ungehobelt erscheinenden Steppenwolf. Außerdem hängt Harry den Stilrichtungen von Klassik und Spätromantik an, während er Jazz und Tanzmusik schlecht findet. Oktaven und Quinten, Intervalle und Sprünge zeigen seine Zerrissenheit, elektronische Klänge imaginieren die Unwirklichkeit des Magischen Theaters. Eine Jazzcombo auf der Bühne gehört zur Unterhaltungswelt der Hermine im Tanzlokal, der Kneipe der Prostituierten. Schon hier tritt Pablo mit seinem Saxophon auf, stößt aber dabei auf das Missfallen des Traditionalisten Harry.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Auch beim Klavier ahnt man den Jazz durch. Das Orchester ist groß besetzt, manchmal fast wagnerianisch bei gesteigerten Klangballungen, dann aber auch wieder fast kammermusikalisch; all das dient dem Ausdruck der inneren Zerrissenheit. Oft auch werden Sprechpassagen musikalisch untermalt oder Arioses gleitet in Sprechgesang über. Viele Stilformen, abrupte Pausen und Brüche deuten auf eine Krisis, einen Umbruch der Gesellschaft hin. Einige musikalische Zitate, leicht verfremdet, etwa auf Mozarts Don Giovanni, belegen Ähnliches. Nirgends aber klingt diese Musik von Aslůnd disharmonisch oder intellektuell schwierig. „Ich definiere Musik in erster Linie als emotionale Kommunikation“, meint der Komponist, und er benutzt gerne „die alten musikalischen Werkzeuge“. So lässt er einige musikalische Motive zwischen den Personen wandern, aber nur andeutungsweise. Die Oper endet mit einer einfachen Tonleiter, leise, sanft; das versteht Aslůnd nicht als totale Erlösung oder Heilung, sondern als Hinweis, dass Harry seinen Lebensweg weiter gehen muss.

Foto © Falk von Traubenberg

Auch der Tanz spielt in der Oper eine große Rolle. Deshalb ist es ein genialer Schachzug, dass Anna Vita, die Würzburger Ballettchefin, hier ihre erste Opernregie führen darf. Folgerichtig wandelt sie Inhalte punktgenau auf die Musik und sehr geschickt in Bewegung, etwa wenn Harry Hallers Alter Ego, der Steppenwolf, immer um ihn herumgeistert, auf seinem Bett sitzt, sich zwischen Gesprächspartner schiebt, oder wenn er beim Ringen der beiden Ichs niedergeschlagen wird, wenn Haller förmlich neben Hermine sitzt, der Steppenwolf aber sich über Maria hermacht. Dessen „tierische“ Natur wird gleich am Anfang verdeutlicht bei der Jagd nach dem Reh, der Tänzerin Kirsten Renee Marsh im braven roten Kleidchen, und natürlich führt die Ballettcompagnie in der Kneipe oder beim Maskenball mit synchronen Formationen den Tanz an. Doch auch sonst sorgt die Regie für wirbelnde, geradezu irritierende Bewegung, wenn der Chor sich in der Kneipe vergnügt, wobei das immer nach einer Ruhe-Zäsur in verrückten Sequenzen geschieht. Auch sonst passiert ständig etwas, was den Fluss der Realität unterbricht; da schwebt etwa Goethe von oben herab, teilt sich Haller mit und verschwindet wieder in der Höhe, oder historische Gestalten tauchen kurz auf.

All diese Irritationen Hallers werden noch gesteigert durch die bildgewaltige Ausstattung von Verena Hemmerlein, unterstützt vom perfekt darauf abgestimmten Licht von Walter Wiedmaier. Im eigentlich schwarzen Bühnenraum deuten zuerst einige wenige Versatzstücke die Dachkammer Harry Hallers mit den geblümten Tapeten an, dann die gutbürgerliche Stube des Professors mit den Gipsköpfen der Geistesgrößen, bis schließlich Haller und Steppenwolf, aus dem Haus gewiesen, auf dem Weg durch die Stadt ans Magische Theater kommen, aber nicht eingelassen werden. Sie landen in der Tanzkneipe mit roten Sofas und Theke; transparente Vorhänge, durch verschiedenfarbiges Licht als Abtrennung genutzt, geben immer wieder den Blick frei auf eine vergnügungssüchtige Menge; zwei Prostituierte, Hermine und Maria, unterhalten den zuerst widerspenstigen Harry, während sich der Steppenwolf sofort wohl fühlt. Am Ende, nach dem Maskenball, in den sich Haller hineinstürzt, wo ihm Hermine als Hermann und dann als schwarze Pierrette erscheint, darf er ins Magische Theater eintreten. Dieses entfaltet sich aus einer Blume aus Stoffbahnen und umrundet mit transparenten Vorhängen eine Art Manege, lässt Harry in Spiegel schauen, die ihn eigentlich nicht zur Selbsterkenntnis führen, und als nach der Tötung Hermines durch den eifersüchtigen Harry diese weißen Bahnen fallen, wird er von dunklen Dada-Wesen mit fratzenhaften Masken ausgelacht: Er hat alles ernst gemeint, sollte aber über sich selbst lachen. Verena Hemmerlein erinnert bei den Kostümen an die Zeit der Entstehung von Hesses Roman, an die 1920-er Jahre, und in den Kneipenszenen sind die Kleider der skurrilen Masse des Chors inspiriert von Bildern von Georg Grosz, erinnern an die Dekadenz und übersteigerte Verrücktheit der Zeit. Der Maskenball aber vereint alle möglichen Epochen und Gestalten in farbenprächtigen Verkleidungen. Dass Mozart und Goethe sich in ihrem Rokoko-Outfit ähneln, ist sicher Absicht: Sie sind Vertreter vergangener, feudaler Zeiten.

Diese äußerlich aufwändig und kongenial inszenierte Oper findet ihre Entsprechung in der geglückten musikalischen Interpretation. Sebastian Beckedorf führt das aufmerksam mitgehende Philharmonische Orchester Würzburg mit Umsicht und Elan durch die vielschichtige Komposition, und der ständig in Bewegung befindliche Chor meistert nach der Einstudierung durch Michael Clark seinen Part mit erstaunlicher klanglicher Präzision.

Dass die Sänger-Darsteller so überzeugen, ist ein Gewinn für die abwechslungsreiche Inszenierung. Joshua Whitener und Anja Gutgesell sowie Polina Artsis markieren die verschiedenartigen Paare, denen Harry Haller auf seiner imaginierten Lebensreise begegnet, als glaubhafte Charaktere sowohl in Gesang wie Auftreten. Barbara Schöller als von der Decke hängender Goethe oder als amüsierter Mozart bewältigt mit Bravour ihre exponierte Lage, setzt dabei ihren Mezzosopran auch jazzig ein. Rupert Markthaler als Pablo imponiert auf drei Ebenen, mit dem Saxophon, darstellerisch mit guter Figur und stimmlich. Eine herausragende Rolle hat Silke Evers als Hermine, in ihren Tanzbewegungen, durch ihre kühle blonde Attraktivität, mit der sie Harry Haller reizt, durch den Wechsel zwischen distanzierter Unnahbarkeit und emotionaler Nähe, und mit ihrem klaren Sopran meistert sie außerdem mühelos alle Intervallklippen und Höhen ihrer Partie. Als ihre Freundin Maria gefällt Polina Artsis. Im Mittelpunkt des Geschehens aber stehen Harry Haller, Daniel Fiolka, und sein anderes Ich, der Steppenwolf, Bryan Boyce. Gut, dass beide von Auftreten wie Stimme her verschieden sind: Ersterer, eher gehemmt und abwartend, hat ein weicheres, helleres Timbre, letzterer, bärtig und flapsig, ein dunkleres, fülliges. Das passt gut, und ein weiteres Plus ist bei beiden die gute Verständlichkeit.

Nach drei äußerst abwechslungsreichen Stunden, die lediglich vor der Pause eine kleine Kürzung vertragen hätten, ist der Jubel im voll besetzten Haus groß. Das Premierenpublikum feiert mit stehenden Ovationen, vielen Bravorufen und mehreren Vorhängen ausgiebig eine gelungene Uraufführung in der fränkischen Provinz.

Renate Freyeisen