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Eine junge Frau im Kleinstadtmilieu bricht aus, erlebt einen Moment großer Freiheit und nimmt sich das Leben. Wo Armut und Elend hausen, bigotte Religiosität, erstarrte Traditionen, Unbildung und Despotismus den Ton angeben, wird dieses Szenario zum Déjà-vu. Dafür steht die jüngste Inszenierung von Katja Kabanova am Staatstheater Wiesbaden.
Noch vor der ersten Note greift die Tragödie. Ein Kind im rosafarbenen Kleidchen sitzt auf der Schaukel. Unbekümmert blickt sie in den Zuschauerraum. Dann beginnt die Ouvertüre. Während die Musik im fünfminütigen Zeitraffer die gesamte emotionale Entwicklung der Oper unter die Haut fahren lässt, schwingt sich das Kind von der Schaukel, stülpt kurz den nebenliegenden Astronautenhelm über, blickt sehnsuchtsvoll zur Spielplatz-Rakete, schaut auf die Häuserfassade zurück und hebt ohne Zögern den Gully-Deckel ab, um erschreckend friedvoll in die vermeintlichen Fluten der Wolga hinab zu tauchen. Hinter den Fenstern der Plattenbaufassade erscheinen die Waschweiber, die Dämonen, das Kind als Mädchen und als Frau. Regisseur Matthew Wild erzeugt mit dieser Kombination aus stummer Szenerie und dramatischer Musik eine beklemmende Atemlosigkeit, die nach einer pausenlosen eindreiviertelstündigen Aufführung tragisch endet, ohne sich im Bewusstsein des Zuschauers aufzulösen.
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Das Gewitter des russischen Autors Alexander Ostrowski bildet die Vorlage zu Katja Kabanova. Ostrowski zeigt in diesem Drama das Spannungsfeld zwischen dem Individuum und einer selbsternannten ignoranten Aristokratie reicher Kaufleute, die die Stadt despotisch beherrscht. Abhängigkeiten zwingen zu Heuchelei und Selbstverleugnung. In diesem Umfeld handelt Katja.
Als Janáček dieses Drama sah, war er bereits drei Jahre mit der verheirateten Kaufmannsfrau Kamila Stösslová befreundet. Die Verbindung verlief rein platonisch, doch der Komponist war von einer maßlosen Liebe zu ihr erfüllt. Unter diesem Eindruck schuf er seine bedeutendsten Werke. Dazu zählt Katja Kabanova.
Kritik an der Gesellschaft, worauf Ostrowski mit seinem Drama zielte, wollte Janáček jedoch nicht üben. 1922 schrieb er seiner Muse: „Ich musste eine große maßlose Liebe bei der Komposition kennenlernen (...), und Ihr Bild legte ich immer auf ‚Katja Kabanova‘, wenn ich sie komponierte“. Die Kühnheit, die er bei der Bearbeitung der Vorlage bewies, führte dazu, dass Katja den zentralen Handlungsfaden bestimmt. Verheiratet mit einem Mann, der zum Säufer wurde, und unterdrückt von der herrschsüchtigen Schwiegermutter bricht sie aus. Als ihr Mann verreist, beginnt sie eine Affäre und erlebt kurzzeitig eine alles erfüllende Liebe in einer scheinbar unbegrenzten Freiheit. Doch ihr Mut, sich aller Konventionen zu entledigen, hält nicht an. Als ein schweres Gewitter aufzieht, hageln Gewissensbisse auf sie ein. Sie fordert die Gesellschaft heraus, indem sie ohne Anlass ihre Tat gesteht und sie mit einem schuldlosen Selbstmord konfrontiert.
Die Thematik ist nahezu zeitlos. Entsprechend schlüssig ist Matthew Wilds Konzept einer realistischen Darstellung. Matthias Schaller und Susanne Füller bauen eine heruntergekommene Plattenbaufassade, eine Busstation und einen Spielplatz mit Wasserbecken, wie er in Trabantenstädten überall zu finden ist. Dass die Handlung in Russland spielt, zeigen sie durch Plakate an der Busstation und an der Häuserwand, eines davon mit dem Konterfei von Wladimir Putin. In diesem auf realistische Darstellung konzentrierten Gesamtkonzept ist nur der Gully irritierend. Wild sieht ihn als Zugang zur Wolga oder vielmehr zum Wasser als Sinnbild des Eintauchens in Träume und der Erlösung von aller Qual. Dafür füllt er auch die Becken auf dem Spielplatz mit Wasser. Die Protagonisten tauchen hier immer dann ein, wenn es ihnen gelingt, für den Moment allen Konventionen und Engen zu entschlüpfen.
Sabina Cvilak durchlebt alle Höhen und Tiefen einer heldenhaften blonden Katja. Ihr Gesang spiegelt ein Wechselbad der Gefühle und Sehnsüchte in allen Extremen, reibt und verbindet sich mit Janáčeks Klangbildern zwischen schroffen bizarren Färbungen und sanftesten wie zärtlichsten Streicher- und Holzbläsertönen. Hervorragende Sängerschauspielerleistungen bieten auch Dalia Schaechter in ihrer scharf und schrill durchschneidenden Kabanicha-Partie und Mirko Roschkowski mit seinen kurzen wie klangschön gestalteten Einwürfen als leidenschaftlich liebender, doch im Alltag schwächlicher Boris. Erfrischend spielverliebt, wie es die Vorlage zulässt, und stimmlich bravourös begeistern Silvia Hauer als Warwara und Wolf Matthias Friedrich als Dikoj. Auch die weiteren Solisten in kleineren Partien sowie der Chor und das Orchester des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden tragen zu dieser überzeugenden musikalischen Leistung bei.
Zsolt Hamar veranlasst die Musiker zu bestechender Transparenz und größtmöglichem Kontrast wie Intensität. Die Perversion des Augenblicks, wie sie in der Verbindung aus Szene und Musik immer wieder hervortritt, bringt er ungeschönt scharf und direkt zum Klingen, überaus sinnlich und zart demgegenüber die leichten und fröhlichen Partien, die auch dieses Werk nicht entbehrt.
Das Publikum bedenkt diese in sich durch und durch schlüssige, sehens- und hörenswerte Aufführung mit großem Applaus.
Christiane Franke