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Placido Domingo schont sich wenig. Mit 75 Jahren tourt der Sänger um die Welt und erringt sich seit dem Fachwechsel zum Bariton alle größeren Verdi-Rollen nun erneut. Viel wurde darüber geschrieben, auch über die Glaubwürdigkeit eines Grafen Luna im Großvateralter, über oft merkwürdige Gastspiele zwischen Sofia, Singapur und Sotschi, über Applausliebe und bestehende Bühnenpräsenz. Wien ist bekannt dafür, seine Kammersänger, seine Hausgrößen und Publikumslieblinge hochzuhalten, treu zu schätzen. Domingo hat sich an der Staatsoper neben unzähligen Partien auch als Dirigent einen Namen gemacht. Der George Germont kommt ihm da sehr gelegen, stimmlich wie szenisch, wie vom Rollenalter gefordert.
Passenderweise wird in dieser Inszenierung der Vater als tragische Figur in den Mittelpunkt gerückt und durch sanfte Regieeinfälle intensiver erzählt, als das bei vergleichbaren Traviata-Inszenierungen passiert. Nicht wenige Regisseure hadern mit Verdis Hauptwerk, so oft produziert, so genau im Ohr. Nach dem Aufreger an der Scala des vergangenen Jahres und vielen reduzierten und gelungenen Inszenierungen wie dem Salzburg-New-Yorker Kooperationserfolg, entscheidet sich auch Jean-François Sivadier für eine entzeitlichte, auf Figuren konzentrierte Variante. Die leere Bühne mit einer schwarz gestrichenen Ziegelwand von Alexandre de Dardel zeigt eine kühle Lagerhalle, in der Bohèmiens ein Fest feiern. Ein paar Stühle, ein einzelner Vorhang, kein Palais. Einige Segel schweben von der Decke, verwandeln die Leere in einen wolkenverhangenen Himmel, eine Wiese, an passender Stelle heben sich drei Kronleuchter, zu Violettas Tod regnet es goldene Blüten.
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Diesem kühlen Konzept stellt Sivadier kluge Einfälle entgegen. Zum Vorspiel nimmt Violetta zunächst aus der Hand des Arztes starke Medikamente, dann von der Zofe starkes Makeup und auf geht’s zur Feier. Doch spätestens das Sempre libera wird zum Aufschrei einer Frau, die selbst nicht mehr an Genesung glaubt, an ein wütendes Tier, dass das eigene Verlöschen zu genau verspürt. Bis zum Ende kämpft sie eher um Alfredo als um sich, nimmt ihn selbst nach der großen Schmähung im zweiten Akt liebevoll in die Arme, und erst zum Ende verwirrt sie mit neuem Lebensatem, den Sivadier als Schlussmoment bis zum letzten Takt hinauszögert. George Germont belauscht seinen Sohn ungewöhnlicherweise bei De miei bollenti spiriti, lächelt beim verliebten Freuen seines Kindes, zieht sich erst beim Erscheinen von Violetta zurück, um kurz danach diese Beziehung harsch und traurig zugleich zu beenden. Das sind kleine, durchdachte und stimmige Momente, die von Philippe Berthomés Spots in grelle Exponiertheit gerückt werden. Weniger glücklich die Kostümwahl von Virginie Gervaise, die sehr nach Fundus wirkt, und Violetta in fades Blau taucht.
Fad klingen die Stimmen hier dagegen nicht. Zwar verweigert Marina Rebeka jegliche Dialogzeile des ersten Aktes, um sich auf Doppelarie und weiteres Forderndes zu konzentrieren, doch sie beweist mit warmem, lyrischem Sopran, dass es keine drei Sängerinnen für die Traviata, sondern eine kluge Bühnendarstellerin braucht. Der zweite Akt liegt ihr dennoch am meisten, ihr Amami, Alfredo verklingt sanft und rührend. Szenisch präzise glaubt man ihr die Resignierende ebenso wie die späte Hoffnung, ihr russischer Akzent stört wie bei anderen wenig. Zu leicht in der Diktion allerdings macht es sich Alfredo Dmytro Popov. Sehr vokalaffin fehlt der Fokus in den Arien, was sein Stimmvolumen eigentlich nicht fordert. Höhenklar, fein in den Nuancen überzeugt auch er nach einem Kaltstart mit vollem, leicht metallenem Klang und weniger szenisch mit arg steifem Gestenspiel. Domingo erhält Vorschusslorbeeren. Auf der Bühne agiert er galant, seinem Alter angemessen, wobei er Beweglichkeit teils vortäuschen muss. In Blick und Geste sieht man die Dekaden von szenischem Können. Stimmlich hört man viel ehemaliges tenorales Material, teils Probleme in der Atmung, immer jedoch einen erfahrenen Sänger ohne Allüre, der spätestens beim Di Provenza il mar, il suol alle Kritik verstummen lässt. Zudem fügt er sich ins Ensemble, spielt auch mit der Stimme und liefert das, was seinem Alter, seiner Stimme und seiner Erfahrung gemäß ist. Zoryana Kushpler als Flora überzeugt eher tänzerisch in der auch in dieser Inszenierung schwierigen Balletteinlage, Donna Ellen gefällt als Annina und Christoph Nechvatal gibt als Faktotum eine stimmige Extrarolle, die galant um Violetta herumschwänzelt und den Gang der Handlung erhöht.
Das gelingt auch Marco Armiliato spätestens beim Libiamo. Zur Ouvertüre noch lässt er sich Zeit, erst beim Marsch zieht er die Zügel an, spielt klug mit den Tempi. Das Staatsopernorchester folgt mehr als der Chor. Armiliato dirigiert auswendig, mit sanfter Geste, gern hilfsbereit bei seinen Granden, und schraffiert auch die leisen Töne Verdis etwa in den beiden Briefszenen galant, und schockiert darauf donnernd im Finale.
Das ist Verdi-Klang aus Graben und an der Rampe, der Begeisterung schürt. Lange hallen Bravos nach vielen Arien, und am Ende will der Applaus nicht aufhören, die Presse drängt sich am Orchestergraben und Blumen fliegen. Domingo macht weiter, was nach diesem Publikumserfolg auch durchaus nachvollziehbar ist.