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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter de Jong

Aktuelle Aufführungen

Hauch des Besonderen

FALSCHE WELT, DIR TRAU ICH NICHT
(Johann Sebastian Bach)

Besuch am
15. Juni 2016
(Premiere am 11. Juni 2016)

 

 

Könnte es einen vielversprechenderen Titel geben als Falsche Welt, dir trau ich nicht? Titel dieser Art schreien nach einer modernen Inszenierung, nach zeitlosen Problemen, nach wohlbekannten Schicksalsschlägen. Regisseur Peter Konwitschny hat das in seiner Inszenierung von Johann Sebastian Bachs Kirchenkantaten Falsche Welt, dir trau ich nicht, Mein Herze schwimmt im Blut und Ach wie flüchtig, ach wie nichtig wohl genauso gesehen und sie zu einem Dreiergespann des menschlichen Lebens zusammengeschnürt.

Dabei greift er keinesfalls auf das christliche Dreiergespann zurück, den Vater, den Sohn und den heiligen Geist, sondern auf ein weltlicheres. Konwitschny baut seine Inszenierung anhand des Alterungsprozesses des Menschen auf, speziell dem einer Frau. Beginnend mit einer jungen Frau, voller im wahrsten Sinne des Wortes Gottvertrauen in die günstigen Geschicke ihres Lebens, geht er weiter über eine Frau mittleren Alters, die wiederum von den Geschicken ihres Lebens getäuscht wurde, bis er schließlich beim hohen Alter ankommt. Erst im zweiten Teil der Aufführung mit Ach wie flüchtig, ach wie nichtig nimmt Konwitschnys Inszenierung künstlerisch volle Fahrt auf. Den letzten Abschnitt des menschlichen Lebens verlegt er in ein Altersheim. Seine vier Bewohner, Tenor Hans Schöpflin, Bass Jacek Strauch, Alt Cornelia Kallisch und Sopran Christiane Boesiger, verkörpern in erschreckend vertrauter Weise die unerfreuliche Seite des Alterns: das würdelose Altern. Zusammengesunken, verwirrt, aggressiv, zynisch, hilflos fahren sie, an ihre Rollstühle gefesselt, langsam über die Bühne. Körper und Geist haben lange versagt, zusammengehalten wird das Leben von Hilfsmitteln und Pflegern. Umso passender, dass die vier Sänger ihre Stimmen teils anpassen. Ein wenig ältlich, etwas dünner, die letzten Passagen über den finalen Abschied, den Tod, singt Boesiger nicht, sondern fistelt ihn in kratziger, schwacher Frauenstimme. Diese dritte Passage ist erkennbar der Höhepunkt der Inszenierung.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Der Anfangsteil, indem Christel Elisabeth Smith sich als junge Frau in ihrer eigenen Vollkommenheit sonnt, schließlich einen Tanz hinlegt, um sich selbst zu zelebrieren, kann mit dem starken Ende in der Rückschau kaum mithalten. Wobei auch hier eindrucksvolle Bilder entstehen: Während es in Falsche Welt, dir trau ich nicht um eine gemeinsame Klausur mit Gott vor eben dieser Welt geht, wandelt die Inszenierung diese göttliche Zweisamkeit zu einer Einsamkeit mit sich selbst. Die junge Frau findet Gott in sich, als sie selbst in ihrer jugendlichen Perfektion. Demonstrativ duscht Smith, tanzt mit sich, feiert sich. Die außenstehende Welt wird dargestellt als eine Horde, die zombiegleich in ihre Wohnung eindringt, auf sie zu schleicht, sie umringt, und sie doch schließlich zurücklässt. Die junge Frau verharrt auf einem Stuhl, gewahr, dass sie ihre göttliche Unberührtheit nicht halten kann.

Foto © Peter de Jong

Selbige hat die ältere Frau im zweiten Teil Mein Herze schwimmt im Blut bereits lange verloren. Als Prostituierte verkauft sich Boesiger – nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Würde. Selbst vor einer Reihennummer mit versoffenen Halbstarken nimmt sie keinen Abstand, solange die Bezahlung stimmt. Dabei schaffen Boesiger und Konwitschny den mühsamen Spagat zwischen Mitleid, billiger Provokation und Respekt vor der Figur immer zugunsten der Figur. Der starke Moment hier: Die Minuten des Schweigens von Boesiger, in denen sie ihr Publikum mit den Gedanken ihrer Figur alleine lässt. Auch hier geht es im Text um eine Aussöhnung mit Gott, in der Inszenierung jedoch geht es um die Aussöhnung mit sich selbst. Trotz vereiteltem Selbstmordversuch mit Schlaftabletten kann die Figur am Ende ihren Respekt vor sich selbst wiedergewinnen; und sei es auch nur über die Tasse Kaffee mit der Freundin. Alles in allem ist dieser Teil aufgrund seiner Stringenz jedoch der schwächste. Die Geschichte der Prostituierten erscheint nicht zeitlos, sondern bekannt. Am Ende bleibt nur die Frage, ob sie mit Schlaftabletten oder dem goldenen Schuss versucht, ihrem Dasein ein Ende zu bereiten. In diesem Teil fehlt es der Inszenierung an dem Hauch des Besonderen, den sie im dritten Teil so mühelos bekommt.

Die Ausstattung von Helmut Brade trägt wesentlich zum Gelingen der Inszenierung bei. Das Anlegen der weißen Unterwäsche von Boesiger im ersten Abschnitt kann als Zeichen der ursprünglichen Unschuld gedeutet werden. In dem Moment, in dem sie sich aber umentscheidet von der weißen Bluse zum schrillen Paillettenshirt, beginnt das Feiern ihrer Selbst. Auch wenn das Mädchenhafte mit den pinkfarbenen Turnschuhen an ihr haften bleibt. Der immer gleiche Aufbau des Lebensraums, eines Zimmers mit Waschbecken und zwei Ausgängen, ist ein besonders gelungener Handgriff, um die Veränderungen im zunehmenden Alter darzustellen. Auch hier stringent, dass im dritten Teil jede Art von Persönlichkeit und Lebendigkeit aus dem Raum verschwindet. Selbst die Wände sind nur noch karge Holzskelette.

Die Leistungen der Sänger sind besonders in darstellerischer Hinsicht zu loben. Wie Boesiger den Respekt für ihre Figur als Prostituierte wahrt, hat gesondertes Lob verdient. Ebenso wie die vier Alten am Ende. Boesigers Sopran ist kraftvoll und energiegeladen, teils fehlt es ihm gerade deswegen an den letzten Feinheiten, was aber aufgrund ihrer akkuraten, stimmungsvollen Treffsicherheit in den Hintergrund tritt. Spielerischer ist der Sopran von Smith, variabel in den Höhen, dafür fehlt es ihr wiederum an der Treffgenauigkeit. Das Alten-Quartett besticht durch seine Verwobenheit von Stimme und darstellerischem Spiel, da klingt der Bass etwas ältlicher und behäbiger, der Tenor vibriert bei Anstrengung leicht, die Altistin lässt ein leichtes Zittern mitklingen. Alles gekonnt, alles kontrolliert.

Das Orchester unter der Leitung von Michael Hofstetter zeigt einen Facettenreichtum und eine lebendige, spielerische Präzision, die freudig überrascht und gleichzeitig zeigt, zu welchen Höchstleistungen das Trierer Orchester fähig ist.

Das Publikum belohnt den Abend mit minutenlangem Applaus und standing ovations.

Mit dieser Aufführung ist Falsche Welt, dir trau ich nicht allerdings auch bereits abgespielt im Theater Trier. Zwei Vorstellungen gab es bloß. Während bei der Premiere gerade mal die Hälfte des Hauses besetzt war, steht zur zweiten Vorstellung eine lange Schlange vor der Kasse an, um noch Eintrittskarten zu bekommen. Ein schönes Signal für das Theater Trier.

Stefanie Braun