Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dorit Gätjen

Aktuelle Aufführungen

Die beste aller Welten

CANDIDE
(Leonard Bernstein)

Besuch am
6. Juli 2016
(Premiere am 26. Juni 2016)

 

 

Volkstheater Rostock

Es gibt nur wenige Philosophen, denen es gelingt, ihre Philosophie in einem lesbaren Roman zu präsentieren. Da macht der französische Aufklärungsphilosoph Voltaire alias François-Marie Arouet mit seinem Roman Candide keine Ausnahme. Sein Versuch, zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine populäre und beliebte Weltbetrachtung in Personen und Ereignisse zu verpacken, wird schnell bekannt und macht Voltaire zu einem Bestsellerautor seiner Zeit. Gern lesen die Pariser seine Kritik an den Missständen des Absolutismus und seine Verspottung der Feudalherrschaft und der Auswüchse im Leben der Feudalherren. Doch daraus eine Bühnenvorlage zu machen, gar ein Opernlibretto zu schreiben, ist noch einmal etwas anderes – und Hugh Weeler gelingt das trotz zahlreicher Überarbeitungen nur mäßig. Auch die deutsche Textfassung von Stephan Kopf sowie Zelma und Michael Millard kann das nicht grundlegend ändern. An seinen Kompositionen für eine „komische Oper“, seine Operette zu diesem Stoff feilt Leonhard Bernstein bis zu seinem Tod 1990 immer wieder, doch nur wenige Theater bringen Candide auf die Bühne oder nehmen es in ihr Repertoire auf. Die Inszenierung, die Johanna Schall jetzt für das Volkstheater Rostock eingerichtet hat, kann die Schwächen vor allem des Librettos nicht auffangen, der Aufführung fehlt eine klare Linie, der von der Hauptfigur propagierte und gelebte Optimismus endet musikalisch und szenisch in dem Schlusssatz „Noch Fragen?“, der die Zuschauer ein wenig ratlos zurück lässt.

Dabei kommt die Aufführung in großen Dimensionen daher. Horst Vogelgesang hat eine riesige, aus dem Hintergrund einziehende, rote Showtreppe bauen lassen. Sie zieht sich, immer breiter werdend, in den Vordergrund der Bühne. Die von Jenny Schall gestalteten Kostüme sind opulent, in knalligen Farben oder schwarz, barock ausladend. Der Theaterchor, durch einen Extrachor ergänzt, und die Norddeutsche Philharmonie Rostock unter Leitung von Manfred Hermann Lehner sichern ein umfangreiches Klangvolumen, die einzelnen Figuren sind darstellerisch und stimmlich bestens besetzt. Auch zwei Ausfälle können überzeugend ersetzt werden. Die glückliche Adelsfamilie des Barons, auf einem ländlichen Schloss zu Hause, hat sich das sorglose Leben auf dem Lande mit Dienstmädchen und Hauslehrer nett eingerichtet, selbst für Candide, den Bastard, den unehelichen Sohn des Barons ist noch Platz – eine Idylle, mit der Voltaire das sorglose Leben des Feudalstandes seiner Zeit bissig kritisiert.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In seinem ziellosen Leben wandert Candide auf der Suche nach der besten aller Welten durch Stationen in  Westphalia, Lissabon, Spanien, Cartagena, Montevideo, den südamerikanische Dschungel und ein fiktives Land Eldorado, die die Inszenierung mit einigen wenigen Stereotypen andeutet und Bernstein musikalisch knapp anklingen lässt. Die dürftige Handlung wird von Voltaire, den Alexander Franzen überzeugend spielt, mehr erzählt als vorangebracht. Elena Fink als Cunegonde, der Baronstochter, gelingt es, ein wenig Pep auf die Bühne zu bringen, Katharina Löwe als Dienstmädchen und Kardinal hat durchaus komisches Talent und karikiert amüsant ihre Figuren. Christopher Diffey singt und spielt den flippig-unsicheren Candide mit jugendlichem Ungestüm, James J. Kee übernimmt gleich mehrere Rollen als Baron oder Gouverneur in barocker Fürstenfigur und hat spielerische Freude an seiner eigenen Karikatur. In einer geteilten Rolle gelingt es Natalie Brockmann, Spiel, und Nadine Weissmann, Gesang, eine erkrankte Kollegin bestens zu ersetzen. Doch trotz guter Darsteller plätschert das dünne Leben bei Hofe vulgo auf der Bühne ohne dramatische Höhepunkte beliebig-langweilig dahin, Texte und Spielideen zeigen deutliche Längen.

Foto © Dorit Gätjen

Bernsteins rhythmusbetonte Musik überrascht gelegentlich mit neuen, ungewohnten Klängen, breitet mal opernhafte Arienklänge, mal flotte Tanzrhythmen aus und ruft mehrfach Erinnerungen an seine Musical On the Town und die Westside Story hervor, von denen sich der Zuhörer gern mehr wünscht. Manfred Hermann Lehner, die Norddeutsche Philharmonie Rostock und der umfangreiche Chor bringen barocke Klangfarben ebenso sicher und klangvoll auf die Bühne wie jazzige Elemente und ein wenig Latin aus Südamerika.

Am Schluss fragt sich der Zuschauer verunsichert, ist es Ironie oder Fatalismus, die der Philosoph da präsentiert? Voltaires Credo, die Protagonisten seiner Zeit lebten in der besten aller denkbaren Welten, bleibt schal und angesichts der Folgenlosigkeit aller Einsichten unglaubwürdig, seinem Motto „Lieben wir uns, wie wir jetzt sind“ möchte angesichts dieser Geschichte wohl kaum jemand folgen.

Doch überdrehtes Spiel und manche flotte Musik haben die Zuschauer durchaus amüsiert, sie bedanken sich bei Darstellern und Orchester mit minutenlangem Beifall – der besten der hier möglichen Reaktionen.

Horst Dichanz