Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Reise um die Welt auf den Spuren der Liebe

LES INDES GALANTES
(Jean-Philippe Rameau)

Besuch am
3. April 2016
(Premiere)

 

 

Staatstheater Nürnberg

Eine Reise um die Welt auf den Spuren der Liebe, heiter bis wolkig, witzig bis ironisch, unternimmt im Nürnberger Opernhaus Regisseurin Laura Scozzi mit Jean-Philippe Rameaus Ballet héroique Les Indes Galantes aus dem Jahr 1735/6. Unter dem für uns Heutige rätselhaften Titel verbirgt sich nicht irgendetwas Indisches; in der Barockzeit versteht man darunter nicht das geografische Indien in der Mehrzahl, sondern man bezeichnete damit einfach exotisch ferne Länder, also das „östliche“ Indien wie die Türkei oder Persien und das „westliche“ Indien wie Südamerika mit Peru oder Nordamerika mit seinen Indianern. Bekanntlich wollte Columbus nach Indien und landete in Amerika; daher werden auch die Ureinwohner Indianer genannt. Beim Adjektiv „galant“ geht es um Erotik, um Liebe, um menschenfreundliches Verhalten.

Im Prolog von Rameaus Ballett-Oper wird, wie es sich damals gehört, der Anlass zum etwas verwirrenden Geschehen „erklärt“: Die Göttin der Jugend, Hébé, ruft den Liebesgott Amor zu Hilfe, weil die Göttin des Krieges, Bellone, ihr alle jungen Männer – und damit auch ihre Frauen – aus dem Paradies durch die Aussicht auf Ruhm weglockt. Also entsendet Amor seine drei Helferinnen, die ungeniert überall eingreifenden Amouretten, in vier Weltregionen, um endlich den paradiesischen Zustand wiederherzustellen. Sie zeigen dabei, laut Rameau, an vier Kurzopern, Entrées genannt, wie die verlorene Balance zwischen Gewalt und Menschlichkeit wieder in Einklang gebracht werden kann.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Um solche Gedankengänge nachzuvollziehen, sollte man einen Blick auf die französische Oper der Zeit werfen. Gängig war damals, die Mythologie, also die griechische Götterwelt, als Allegorie auf die politischen Verhältnisse zu verwenden. Das geschieht hier in konventioneller Weise im Prolog. Doch dann weichen Rameau und sein Librettist Louis Fuzelier vom Gewohnten ab. Sie benutzen ihre vier Entrées zur Kritik an den Verhältnissen ihrer Zeit, an der Ausbeutung der noch nicht so entwickelten Länder durch die Europäer, an den ständigen Kriegen und am moralisch fragwürdigen Verhalten von Männern gegenüber Frauen. Es ist also eine Oper, die von den Gedanken der Aufklärung durchzogen ist. Ganz deutlich wird das im zweiten Entrée, bei den Inka in Peru , wo unter dem Vorwand der Religion, der Anbetung des Sonnengottes, ein Priester eine Frau missbraucht, die aber schließlich von einem „aufgeklärten“ Europäer gerettet wird, wobei allerdings die alte Kultur untergeht. Den Gegensatz dazu zeigt die letzte Kurzoper, wo sich die Indianerin für die Natur und gegen die geschäftstüchtigen, selbstbewussten Europäer entscheidet und so ihren Wald, ihre Kultur erhält. Alles endet im Paradies, mit dem Sieg Amors über den Krieg und in einer triumphalen Chaconne.

Foto © Ludwig Olah

Die Choreografin und Regisseurin Laura Scozzi, die die Oper auch schon in Toulouse und Bordeaux herausgebracht hat, versetzt die Handlung der Entrées in die Jetzt-Zeit, in „die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Individualismus“, fasst alles unter dem „bissigen Blick auf die Gier der Menschen“ zusammen und kann so nicht ohne Humor aktuelle Parallelen ziehen: beim ersten Aufzug Der großmütige Türke auf das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, bei der Peru-Episode auf die Terrororganisation „Leuchtender Pfad“ und den verbrecherischen Drogenhandel, bei Die Blumen. Persisches Fest auf die Unterdrückung der Frau in islamischen Gesellschaften und in Die Wilden auf den Kampf der Umweltschützer gegen den Kommerz.

Dabei gelingt es ihr auf geradezu geniale Weise, die Operntexte in reale Bilder mit ständig überraschenden Details und Aktionen zu übersetzen und selbst in den Zwischenmusiken zwischen den einzelnen Akten niemals Langeweile aufkommen zu lassen. Alles wird gehalten in einer „Balance zwischen der Anprangerung unhaltbarer gesellschaftlicher Zustände und dem komischen Charakter der Handlung“. Ständig passiert etwas, ständig reizt etwas zum Schmunzeln. Eine große Hilfe bei der Verbindung der divergierenden Handlungselemente sind die tollen Videos von Stéphane Broc, die immer wieder Flüge um die Welt simulieren, die Zuschauer so hautnah zu den einzelnen Schauplätzen mitnehmen. Das steigert sich noch durch das sehr „reale“ Bühnenbild von Natascha Le Guen de Kerneizon. Da gibt es ein üppig grünes, wucherndes Paradies, eine türkische Küste mit Meeresblick, Schiffen und Strand, auf dem bei Sturm alles weggeweht wird, sogar Sonnenschirm und Liegestuhl, ein einsames Anden-Hochgebirge mit Koka-Blätter-Sammelstelle, Drogen-Vertrieb und Tempelhaus, eine persische Wüste mit Waschmaschine für die Gebetsteppiche und Jungfrauen-Catwalk, einen nordamerikanischen Nationalpark, in dem findige Geschäftsleute den Wald abholzen lassen und stattdessen ihre Zivilisations-Segnungen wie die perfekte Küche und das bequeme Schlafzimmer auffahren lassen. Das wird ergänzt durch die jeweils passenden Kostüme von Jean-Jacques Delmotte. Die drei unerschrockenen Liebesbotschafterinnen tragen je nach Land andere T-Shirts, sind aber immer ausgerüstet mit Plastiktüten eines Textilkaufhauses, selbst als sie in Persien in bunten Ganzkörper-Schleiern herumflattern. Und was ist das passende Outfit im Paradies? Natürlich die Nacktheit. Deshalb tanzen, hüpfen, spielen und rennen dort auch fröhlich und unbeschwert elf unschuldig lockere Nackte umher, Männlein wie Weiblein, erinnern auch mit Äpfeln an Adam und Eva.

Die heitere Idylle wird gestört durch den Auftritt von Bellone auf einem Fahrzeug, gefolgt von Soldaten, Papst, Kardinälen, Leuten aller Art bis hin zu Fußballern; sie hinterlassen Müll und Zerstörung. Da ist Amor auf der Flucht, verwandelt sich in eine fesche Stewardess und fertigt die drei Amouretten per Security ab zum Flug in die Ferne. Interessanter Weise wirkt die Musik Rameaus zu diesem bildreichen Bühnengeschehen gar nicht fremd. Sie unterhält wunderbar durch den wechselnden Rhythmus der verschiedenen Tänze, durch die Tonsprünge und Klangfarben, unterstreicht und illustriert, etwa bei der Erscheinung des Krieges durch Verwendung des Basses, ahmt Vogelgezwitscher nach oder das Toben des Unwetters oder die Katastrophe beim Vulkanausbruch. Dass Rameau erst im Alter von über 50 Jahren nach seiner Tätigkeit als Komponist von Kammermusik und Motetten und als Musiktheoretiker mit dem Ballet héroique sein zweites Bühnenwerk geschaffen hat, es mit italienischer Musik wie der Arie Les fleures und der Einbeziehung seines Cembalo-Stücks Les sauvages angereichert hat, zeigt überdies seine Meisterschaft, Unterhaltendes mit Ernstem zu verknüpfen. Seine Oper war nicht für den Hof gedacht, enthält deswegen keine „repräsentative“ Musik, weil sie ja auch das gesellschaftliche System seiner Zeit kritisiert.

Und doch können wir Heutigen seine vieraktige Ballettoper trotz aller aktuellen Parallelen in vollen Zügen genießen, vor allem, wenn sie von einem so erfahrenen Dirigenten wie Paul Agnew am Pult der gut aufgelegten Staatsphilharmonie Nürnberg verwirklicht wird. In diesem Werk hat er selbst oft die Tenor-Partie gesungen, er ist ein Spezialist für französische Barock-Musik. Hier gibt es viele Freiheiten in den Verzierungen, in Phrasierung, Tempo und Artikulation; alles das muss in einer gewissen Balance gehalten werden zwischen Detailverliebtheit und großer Wirkung.

Schon der Prolog mit seiner stetigen Bewegung, der festlichen Ausstrahlung, dem Wechsel zwischen schnelleren und langsamen Tanzsätzen unterhält angenehm, ebenso wie die Divertissements zwischen den Entrées ein breites Spektrum von Klang-Erlebnissen aufleuchten lassen. Die vielschichtigen Chöre, einstudiert von Tarmo Vaask, mal Flüchtlinge, mal Inkas aus den Anden, mal eine Männergesellschaft in Persien oder Waldhüter in Amerika, sind ständig in Bewegung und gefallen durch Tonschönheit, Lebendigkeit und variable Gestaltung.

Und die Sänger, in vielfältigen Rollen als Darsteller eingesetzt, überzeugen mit stimmlicher Präsenz, auch wenn eine Reihe von ihnen „erkältungsbedingte Eintrübungen“ beklagt. Zu hören ist das kaum. Als mädchenhaft zarte Hébé begeistert Michaela Maria Mayer nicht nur äußerlich, sondern auch mit ihrem schönen, runden, fein geführten Sopran; als Phani, verfolgte und gequälte Inka-Prinzessin, kann sie mit mehr Nachdruck aufwarten, während sie als blondes Sex-Gift Atalide die Muslime geradezu provoziert. Amor wird von Csilla Csövari mit hellem Sopran gesungen; sie schlüpft später in eine elegante Stewardess-Uniform, wird dann zur freundlich dienenden Sklavin Roxane und schließlich zur selbstbewussten Indianerin Zima, die ihr Land strahlend preisen darf. Mit ihrer dunkel gefärbten, dramatischen Stimme ist Hrachuhí Bassénz für die eher tragischen Rollen prädestiniert. So ist sie die gestrandete Emille auf der Suche nach ihrem Gatten Valère, die sich aber dann doch dem edlen Türken Osman zuwendet, als er sie frei gibt, und als Fatime leidet sie unter den unverschämten Ansprüchen ihres Gatten Tacmas. Den Osman singt mit voller, schmelzender Stimme Vikrant Subramaniam ebenso wie den freundlichen Naturschützer Adario. In allen vier Kurz-Opern bestreitet Martin Platz die anspruchsvollen Partien mit seinem hellen, beweglichen Tenor, und dabei gestaltet er vier verschiedene Männer-Figuren wie den schiffbrüchigen Valère, den fortschrittlichen Carlos, den Macho Tacmas und den französischen Lebemann Damon. Florian Spiess ist als Kriegsgöttin und als stolzer Spanier Alvar tätig.  Die Publikumslieblinge aber sind die drei quirligen, grotesken bis skurrilen Amouretten, die mal an der Küste herumklettern, mal mit Kokain herumwerfen, es trinken und in keinen schlimmen Rausch verfallen und auch sonst für allerhand Schabernack gut sind. Denn die Regisseurin hat bei allem ein Motto: Lachen ist gesund! Damit lassen sich auch bittere Wahrheiten ertragen.

Das Publikum im voll besetzten Opernhaus ist rundum begeistert, bejubelt alle ausdauernd mit Bravo-Rufen. Selten hat man sich so geistreich amüsiert.

Renate Freyeisen