Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CAVALO DE SANTO
(Viviane Juguero)
Besuch am
29. Januar 2016
(Uraufführung)
Fußball, Karneval, Samba, rassige Mädchen in Ipanema, Zuckerhut, Sommer, Sonne, Strand – das ist Brasilien. Stimmt. Ein ganz winziger Teil von Brasilien. Von einem Land vieler Kulturen, die bis heute nicht zu einer sinnstiftenden, gemeinsamen Identität gefunden haben. Ordem e progresso – Ordnung und Fortschritt – haben sich die Brasilianer im Wortsinn auf die Fahne geschrieben. Bis heute unerfüllter Wunschtraum. Beides funktioniert nicht und wird nicht funktionieren, so lange die Vergangenheit nicht aufgearbeitet ist. Bis dahin werden die Splitter vieler Kulturen wie Pfeile durch das Land fliegen, um diejenigen zu treffen, die dafür empfänglich sind. Einheit gelingt so nicht. Bis heute ist allerdings auch die Frage nicht geklärt, ob Einheit überhaupt erforderlich ist. Oder ob nicht der viel bessere Weg ist, die Menschen Respekt vor den anderen Kulturen zu lehren und in der Vielfalt eine Chance zu sehen. Auch in Europa werden wir uns in Zukunft noch viel stärker mit solchen Fragen auseinandersetzen müssen.
Deshalb ist die Idee des Theaters Krefeld Mönchengladbach zu begrüßen, außereuropäisches Theater nach Mönchengladbach einzuladen, um den eigenen, engen Horizont zu öffnen. In diesem Fall ist Regisseur Jessé Oliveira mit seinem Thema aus Porto Alegre angereist, um ein Stück von Viviane Juguero nach seiner Idee mit deutschen Akteuren zu inszenieren. Und ist sogleich völlig erstaunt, welche Zustände er hier vorfindet. Im Leben wäre er nicht auf die Idee gekommen, ein Bühnenbild als Modell zu erstellen oder sich über Kostüme Gedanken zu machen, ehe die Proben überhaupt angefangen haben. Er ist gewohnt, ein Stück anhand von ein paar Skizzen mit den Schauspielern zu erarbeiten. „Der Probenprozess ist in Brasilien entscheidend für den gesamten künstlerischen Prozess. Bei uns ist es üblich, Bühnenbild und Kostüme erst nach dem ersten Probenmonat zu entwerfen, denn die Ästhetik der Inszenierung entwickelt sich aus der kreativen Spannung der Schauspieler, Regisseure und bildenden Künstler“, erzählt der studierte Theaterregisseur, der seine Herausforderung darin sah, „diese beiden Qualitäten zusammenzubringen“.
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Im Mönchengladbacher Studio inszeniert er deshalb Cavalo de Santo – Das Pferd des Heiligen als Uraufführung. Als Pferde des Heiligen bezeichnen laut Oliveira Religionen mit afrikanischen Wurzeln Menschen, die als Medien fungieren. Oder als Portale für Götter, sich auf der Erde zu manifestieren. Den Raum und die richtige Bekleidung dafür bereitet Lydia Merkel. Wer das Studio kennt, weiß, dass schon für die Raumgestaltung viel Fantasie erforderlich ist. Und Merkel weiß, das Publikum schon beim Eintritt zu begeistern. Das Wohnzimmer ist von tropischen Pflanzen umrankt. Links in der Ecke ein Hausaltar, davor ein Esstisch und davor ein Fernseher. Rechts ein ausgeräumtes Fernseh-Gehäuse, aus dem ein Aquarium entstanden ist, auf Bücherstapeln. Dahinter ein Sofa, hinter dem ein Paravent steht, der die übrige Wohnung, Eingangsbereich, Küche und so weiter darstellt. Im Zentrum am Bühnenhintergrund das auch symbolische Fenster, das in der Inszenierung nicht nur den Blickwinkel auf die eigene Nationalität eröffnet, sondern auch Ein- und Ausstieg in andere Welten ist. In atmosphärischer Dichte zeigen sich die Protagonisten hier in stark charakterisierenden Kostümen, die sie häufig zu wechseln haben, ohne dass sich die Bedeutung der Kostümwechsel in der Tiefe immer erschließt. Zunächst mit spannenden Effekten, entgleiten die Projektionsflächen der Videos von Peter Issig zunehmend in die Unkenntlichkeit.
Symptomatisch für den gesamten Abend, durch den sich Adrian Linke als Inãcio und Nele Jung als Graça kämpfen. Statt feiner Psychologie eines Kammerstückes setzt die deutsche Textfassung von Senia Hasičevič eher auf den groben Hammer. Grob und laut wird es, wenn Linke und Jung in die verschiedenen Rollen eintauchen, die ohne Kenntnis des Drehbuchs oft nur schwer erkennbar sind. Zärtlichkeit und Annäherung bleiben die Ausnahme. Viel häufiger siegt das Klischee – und damit verliert das Thema. Während Jung eisern ihre Rollen durchsteht, tut sich der mindestens ebenso engagierte Linke schwer. Die Grobheiten kommen oft scheinbar unmotiviert daher und sind daher kaum glaubhaft zu vermitteln.
Die Brasilianer können die Samba, weil sie Ausdruck ihres Lebensgefühls ist. Die Deutschen können die Samba nicht, weil sie sie bestenfalls in Standardschritten in der Tanzschule gelernt und nicht verstanden haben. Die beiden Akteure hatten ein wenig Unterricht bei Yagnez Da Silva Lima. Das kann nicht funktionieren. Während es bei Jung zumindest noch adrett aussieht, muss Linke hier schon in der Schrittfolge passen. Und die Capoeira haben die Afrobrasilianer in Jahrhunderten gelernt, aus der Not geboren, um ihre Kampfesfähigkeit in der Sklaverei zu erhalten. Das kann auch ein Adrian Linke nicht in sechs Wochen lernen. Das hätte Oliveira erkennen und ihm diese Peinlichkeit ersparen müssen.
Die Musik kommt „vom Band“ und bedient neben christlichen Choralgesängen ebenfalls eher Samba-Klischees, ohne über ein rhythmisches Mitwippen in den Stühlen hinaus mitzureißen.
Warum man dieses brasilianische Ohnsorg-Theater trotzdem in den Folgevorstellungen besuchen sollte? Weil man sehr gut lernt, wie schwierig es selbst beim besten Willen ist, von heute auf morgen gemeinsame Projekte auf die Beine zu stellen. Und weil man versteht, dass wir in Europa viel Geduld, Sachlichkeit und guten Willen brauchen, um mit unseren neuen Mitbürgern eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.
Das Publikum goutiert das Bemühen aller Beteiligten mit vergleichsweise langanhaltendem Applaus: Noch eine Idee für das Europa der Zukunft.
Michael S. Zerban