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BENJAMIN, DERNIÈRE NUIT
(Michel Tabachnik)
Besuch am
15. März 2016
(Uraufführung)
Vor der Opéra National de Lyon proben Breakdancer ihre Künste, im Foyer ist eine Fotoausstellung über syrische Flüchtlinge zu sehen. Das Opernhaus gibt sich offen für ein buntes Miteinander, das keine Berührungsängste scheut. Dazu passen die auffallend vielen jungen Besucher, die am Abend in die Oper strömen, um der Uraufführung von Benjamin, dernière nuit beizuwohnen, die gleichzeitig die Eröffnung des Festivals Pour l’humanité ist.
Benjamin, dernière nuit ist die erste Oper des mittlerweile über achtzigjährigen Schweizer Komponisten und Dirigenten Michel Tabachnik und seines Librettisten Régis Debray, den in Frankreich hoch angesehenen Philosophen und Autor. Auf einem ursprünglichen Drama, das er den Gegebenheiten des Musiktheaters anpasste, basiert Benjamin, dernière nuit. Es thematisiert bedeutende Episoden aus dem Leben des Philosophen Walter Benjamin und Begegnungen mit wichtigen Intellektuellen der Zeit.
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Die Oper setzt 1940 mit der Ankunft Benjamins im spanischen Grenzort Portbou ein und endet mit seinem Selbstmord. In einem Hotelzimmer, in dem er sich von den Anstrengungen der Flucht ausruht, beginnt er zurückzublicken. Wichtige Stationen seines Lebens und ihn prägende Weggenossen ziehen als Traumbilder an ihm vorbei: Er sieht den Freund Gershom Sholem in Jerusalem, die Schauspielerin Asja Lacis bei einem Besuch in Moskau, Bertolt Brecht in einem Nachtclub in Berlin und die Vertraute Hannah Arendt, wie sie ihn zur Flucht ermutigt. Die Szenen gehen nahtlos ineinander über und ergeben einen die jeweilige Atmosphäre stimmig einfangenden Bilderbogen. Dementsprechend hat Tabachnik jeder Station eine eigene musikalische Prägung aufgedrückt. So erklingt in der Jerusalem-Passage Synagogengesang zu Schofarbegleitung, im Berlinabschnitt überlappen sich Kabarettsong, Marschrhythmen und Tanzmusik und am Ende steht ein mächtiges Chorfinale in romantischer Tradition. Vom rein gesprochenen Auftakt in Portbou bis zum Schlussensemble baut sich die Musik wie ein großes Crescendo auf und fügt sich zu einem aus verschiedenen Stilen zusammengesetzten Klanggemälde zusammen.
Illustrativ und mitunter fast filmhaft ist diese Musik, und als großes Kino setzt sie John Fulljames in seiner kongenialen Inszenierung auch um. Die wichtigen persönlichen Momente in Benjamins Leben und Konfrontationen mit intellektuellen Freunden, die in täuschend ähnlicher Maske auftreten, verdichtet die Regie zu einer spannenden, teilweise hyperrealistischen Zeitreise. Dazu passend werden am oberen Bühnenrand Videoprojektionen, wie marschierende Soldaten oder vertriebene Juden, eingeblendet, die das Geschehen quasi auf höherer Ebene verdoppeln. Zur visuellen Überwältigung trägt auch die spektakuläre Ausstattung von Michael Levine bei. Eine Bibliothek begrenzt die Hinterbühne. Sie spiegelt das Wirken von Benjamin wider, denn in den Regalen befinden sich nicht nur Bücher und auf ihn bezogene Requisiten, sondern sie dient auch als Behausung für die Wegbegleiter und deren Auf- und Abtritte.
Benjamin wird sowohl von dem Tenor Jean-Noël Briend als auch dem Schauspieler Sava Lolov verkörpert. Beiden gelingt mit ihren jeweiligen Mitteln eine gleichwertige stimmliche wie darstellerische Identifikation. Michaela Kušteková, Michaela Selinger, Scott Wilde und Jeff Martin stehen für die Leistungskraft und die Aufgeschlossenheit des Ensembles der Oper Lyon gegenüber wagemutigen Projekten.
Der in zeitgenössischer Musik bestens bewanderte Bernhard Kontarsky strukturiert und koordiniert den großen, mit viel, teils exotischem Schlagwerk angereicherten Orchesterapparat. Dabei kann er auf die engagiert mitgehenden Instrumentalisten der Oper Lyon bauen, die seine Vorstellungen suggestiv umsetzen. Der von Philip White einstudierte, stark geforderte Chor singt nicht nur klangschön und eloquent, sondern setzt auch die Choreografie von Maxine Braham in präzisen Bewegungen um.
Heftiger, wenn auch nur kurzer Applaus für ein Gesamtkunstwerk. Im umfangreichen, sehr informativen Programmbuch kann man den Abend Revue passieren lassen. Allerdings nur diejenigen, die des Französischen mächtig sind. Für eine zumindest teilweise englische Übersetzung wäre das internationale Opernpublikum bestimmt dankbar.
Karin Coper