Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
IDOMENEO
(Wolfgang Amadeus Mozart)
Besuch am
9. Juli 2016
(Premiere am 8. Juli 2016)
Wunderkinder haben es auch nicht immer leicht. Schon deshalb, weil es keine Wunderkinder gibt. Es gibt durchaus unterschiedliche Antriebe, damit Kinder einen außerordentlichen Fleiß entwickeln. Damit aus ihnen überdurchschnittliche Talente werden, müssen ihnen Räume geschaffen werden, in denen sie sich entfalten können. Das war bei Wolfgang Amadeus Mozart so, und das war bei Fahimeh Baghnavi nicht anders. Der eine wurde bereits mit vier Jahren an das Klavier gesetzt, die andere fand in einem Karate-Verein ihr Zuhause. Der österreichische Bub wurde im Alter von sieben Jahren auf seine erste, dreieinhalb Jahre währende Tournee geschickt, während das iranische Mädchen die ersten Erfolge bei Wettkämpfen erzielte. Mit zehn Jahren nahm sie an den asiatischen Karatemeisterschaften teil. Bis heute trägt sie die Urkunde in ihrem Smartphone bei sich. Und während das Wolferl mit 15 unverrichteter Dinge von einer Italienreise zurückkehren musste, von der zumindest sein Vater sich eine Festanstellung erhofft hatte, scheiterte mehr als 200 Jahre später die Karriere von Fahimeh damit, dass sie im Iran zur Ausübung ihres Sports ein Kopftuch tragen musste – und damit nicht mehr zu internationalen Wettbewerben zugelassen wurde.
Jetzt haben die beiden sich auf einer deutschen Bühne getroffen. Eigentlich eher die Welt vom Wolferl, Fahimehs Interessen liegen eher im naturwissenschaftlichen Bereich. Und vermutlich hätten sie sich auch gar nicht viel zu sagen gehabt. Der Amadé mit seinen unflätigen Sprüchen hätte das zierliche Mädchen, das sich hier gerne einer Fleißaufgabe stellt, kaum beeindrucken können. Und das hätte auch Bernd Schmitt nicht gewollt.
Das wird in seiner Inszenierung von Idomeneo anlässlich der Schlossfestspiele in Ludwigsburg deutlich: Es geht ihm nicht um die Gleichmacherei der Kulturen. Er empfindet vielmehr die Brüche und Unterschiede als Gewinn. Es gibt die Flüchtlinge auf der einen, der entwurzelten Seite, und die Deutschen auf der anderen, bis vor zehn, zwanzig Jahren als sicher empfundenen Seite. Da gibt es in seiner Regie vorläufig auch kein Zusammenkommen. Weil möglicherweise gar nicht die Notwendigkeit dazu besteht. Aber er liebt das Außergewöhnliche – auch dann, wenn es nicht unbedingt funktioniert. In den Übertiteln gibt es nicht die Übersetzung der italienischen Texte, sondern Zusammenfassungen und Kommentare. Damit fordert er das Publikum genauso heraus wie mit der Gegenüberstellung eines historischen Opernstoffs und der heutigen Generation von Flüchtlingen aus aller Welt.
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Aus rein persönlichen Motiven wird mit leichter Hand über das Schicksal ganzer Völker entschieden. Das ist die Botschaft von Idomeneo. Der stellt Schmitt die individuellen Schicksale einzelner Flüchtlinge gegenüber. Aber der Regisseur will keine Betroffenheitsarien von den Flüchtlingen hören. Die gibt es schließlich schon in der Oper. Anhand von persönlichen Gegenständen macht er die Einzelschicksale fest. Und ehe man sich versieht, ist man schon tief versunken in einem Opernabend, der keine Angst hat, in Partitur und Libretto einzugreifen.
Birgit Angele hat in Kostüm und Bühnenbild ein ideales Tableau für die Handlung geschaffen. In der Mitte der Bühne steht ein Tisch, ein Fluchtboot, ein Krisengebiet. Nach vorne und rechts abgewinkelt, macht allein schon dieser Anblick Staunen. Darüber ist ein Segel aufgespannt, das für Projektionen Platz bietet, die von Schmitt und Angele entwickelt und von Ulrich Hopp passend auf die Leinwand geworfen werden. Um diese Konstellation herum werden rund 20 Heimbetten gruppiert, die einerseits als Aufenthaltsorte der Flüchtlinge, andererseits als Rückzugsgebiete für die Solisten dienen. In diesem Umfeld kann Schmitt die eigentliche Handlung immer wieder unterbrechen, gestalten, ohne den Faden zu verlieren.
Schließlich geht es in erster Linie um eins: Das Publikum will unterhalten und nahezu drei Stunden lang bei Laune gehalten werden. Und das gelingt Schmitt. Ohne moralischen Zeigefinger bringt er die Handlung immer wieder auf verschiedene Ebenen. Und selbst derjenige Zuschauer, der opernunfahren ist, fühlt sich hier angesprochen.
Dazu tragen die Solisten bei, die die Handlung immer wieder vorantreiben. In vorderster Linie steht dabei Cornelia Lanz als Idamante. Bei größtem spielerischerem Einsatz singt die Mezzosopranistin in reinster Selbstverständlichkeit auch die schwierigsten Passagen. Und das gelingt ihr wie den anderen Solisten deshalb so gut, weil Schmitt dafür sorgt, dass bei aller Bewegungsfreude ausreichend Platz für sängerfreundliche Positionen bleibt, ohne auch nur einmal den Eindruck eines Rampengesangs entstehen zu lassen. Für Josefin Feiler, so scheint es, ist die Rolle der Ilia geschrieben. In dieser Perfektion der Stimme kann sie es sich auch einfach mal leisten, mit dem Rücken zum Publikum zu singen. Als Elettra glänzt Tatjana Charalgina nicht nur mit silberheller Stimme, sondern auch als eigentliche Verliererin, ehe sie den Opfertod findet. Stimmlich weniger brillant zeigt sich Maximilian Schmitt, der Idomeneo in den Höhen zwischendurch immer wieder einen nasalen Klang verleiht. In ungewöhnliche Bilder auf der Projektionsfläche setzt Ayden Antanyos das Geschehen auf der Bühne mit seiner Live-Kamera um.
Dazu gehört auch, die Solisten des Flüchtlingschors in den Interviews abzubilden, wenn sie von den Gegenständen berichten, die ihr Leben prägen. Wie beispielsweise der Kompass, den Wassim Alkardoush als Talisman geschenkt bekam, und der ihm, seiner Frau und seiner „Reisegruppe“ das Leben rettete. Oder etwa die Stimme des Musiklehrers, die er eindrucksvoll erklingen lässt und in Deutschland zum Operngesang ausbilden lassen will. Auch ein Hemd und eine Blockflöte finden ihren symbolhaften Platz in der Vitrine der Erinnerungen, die später in Flammen aufgehen wird. Neben einem Gesang, dessen Bedeutung sich dem Publikum vor allem in dieser Dissonanz nicht so recht erschließen will, übernehmen die Choristen überwiegend statistische Aufgaben und bleiben so als Volksmasse ständig präsent.
Im Gegensatz zum Philharmonia Chor Stuttgart, der sich einsatzweise auf der rechten vorgelagerten Seitenbühne einfindet. Von Christoph Heil hervorragend vorbereitet, sorgen auch diese Sängerinnen und Sänger für mehr als einen Höhepunkt im Geschehen. Und das, obwohl der Chor mit einer ungewöhnlichen Herausforderung zu kämpfen hat.
Denn bei BandArt, dem international zusammengesetzten Orchester, gibt es keinen Dirigenten. Die musikalische Leitung übernimmt der Erste Geiger Gordan Nikolic. Er muss sich auf wenige Gesten beschränken, hat er selber doch einige der stärksten Stellen zu bewältigen. Und so müssen Chor, Solisten und Oud-Spieler Samir Mansour ihre Einsätze großenteils selber finden. Das funktioniert überwiegend fabelhaft, wenngleich es in der Balance hier und da hapert. So ist das Cembalo eigentlich nur einmal bewusst zu hören.
Und als sei das alles noch nicht ungewöhnlich genug, findet dieser Idomeneo seinen Ausklang in einer Balletteinlage von Helen Sophie Schmitt, der siebenjährigen Tochter des Regisseurs, die nicht nur schön anzusehen ist, sondern den Zuschauer auch hoffnungsvoll zurücklässt: So lange es diese Kinder gibt, die für ihre Leidenschaft so vieles opfern, hat die Menschheit eine Zukunft.
Das Publikum applaudiert frenetisch einer derart ungewöhnlichen Leistung, dass es auf dem Weg nach Hause noch vieles zu diskutieren gibt. Einig sind sich alle in der Auffassung, etwas wirklich Einmaliges erlebt zu haben.
Michael S. Zerban