Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ROMÉO ET JULIETTE
(Thierry Malandain)
Besuch am
12. Januar 2016
(Einmaliges Gastspiel)
Seit den 1980-er Jahren fördert der französische Staat die Gründung nationaler choreografischer Zentren (NCC), um „Ballette aufzuführen, das Publikum für den Tanz zu sensibilisieren und Tänzer und Choreografen weiterzubilden“. Bislang gibt es 19 NCC. Eines davon ist das Mandalain Ballet Biarritz, das der Choreograf Thierry Mandalain seit 1998 leitet. 22 klassisch ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer beschäftigt das Ensemble derzeit, deren Arbeit allerdings im Sinne ihres Chefchoreografen zeitgenössisch geprägt ist.
Wer zeitgenössisch sagt, meint das meist als strikten Gegensatz zum klassischen Handlungsballett. Diesen – scheinbaren – Widerspruch will Mandalain in seinem Werk Roméo et Juliette auflösen. Zu Auszügen von Hector Berlioz‘ gleichnamiger, dramatischer Sinfonie schickt er 17 Tänzerinnen und Tänzer mit Aluminium-Kisten auf die Bühne. Die Musik kommt aus der Konserve, klingt ein wenig antiquiert, was einen eigenen, durchaus angenehmen Reiz ausübt. Jean-Claude Asquié taucht die von Scheinwerfern strotzende, ansonsten aber leere Bühne – die Seitenbühnen sind ebenfalls geöffnet – in vergleichsweise wenige Weißlicht-Effekte. Eigentlich braucht es auch nicht mehr. Denn im Vordergrund steht die Choreografie der Tänzer, Kisten und Kostüme. Die Kostüme hat Jorge Gallardo entwickelt – und langweilt erst mal mit nichtssagendem Einerlei, das alles verhüllt und so unsäglich alltäglich ist, dass man sich damit wirklich nicht näher befassen will. Erst nach und nach entwickelt sich die Idee, und es finden so viele Kostümwechsel statt, wie man sie im Ballett nur selten findet. Da werden aus den Kisten Kleider gezaubert, verschwindet der braune Standard zugunsten weißer Bustiers und Trikothosen, die von Véronique Murat eher unvorteilhaft geschneidert sind, so dass keiner traurig ist, als die unter fließenden Seidenröcken verschwinden. Ähnlich verhält es sich bei den Herren. So entsteht am Ende eine eigene Kostüm-Dramaturgie, wie man sie wohl noch kaum gesehen hat. Mandalain steht dem mit seiner Choreografie der Kisten in nichts nach. Wie die fließend immer wieder neue Szenen ergeben, grenzt an mathematische Konstruktionen, die ihresgleichen suchen. Und „selbstverständlich“ entsteht quasi en passant auch der berühmte Balkon.
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Nicht minder brillant auch die Bewegungen des Corps. Da gibt es einerseits die grobe Nacherzählung der allseits bekannten Handlung – eindrucksvoll die Kampfszenen, wundervoll der Ball bei den Capulets: bunt, abwechslungsreich, ans Romantische rührend – andererseits aber viel interessanter die zahlreichen Redundanzen zeitgenössischer Ausdrucksformen. Sehr schnell vergessen ist der eigentliche Grund des Hierseins. Was interessiert der formale Ablauf einer Geschichte, wenn sich die Emotionen verselbstständigen? Fast schon überflüssig ist die übertrieben gezeichnete Situation der Gifteinnahme.
Die Körperlichkeit ist Triebfeder Mandalains. Er lässt Küsse nicht nur andeuten. Stattdessen verschränken sich die Körper von Raphaël Canet als Roméo und Claire Lonchampt in großer Innigkeit und einem Selbstverständnis, das die Liebe zwischen den beiden erst erklärbar macht. Nebenbei vollbringt Arnaud Mahouy als Mercutio Leistungen, die denen eines Bodybuilders ebenbürtig sind, wenn er die Kisten scheinbar federleicht in ihren Positionen verändert. Die unterschwellige Erotik entzückt das Publikum im nahezu vollbesetzten Saal.
Da nimmt es nicht Wunder, dass Zuschauerinnen wie Zuschauer nach 75 flott vergangenen Minuten mit Begeisterungspfiffen, teils stehenden Ovationen und für das Forum ungewöhnlich langem Applaus reagieren. Es bleibt dabei: Wer solchermaßen ungewöhnliche, aufregende Produktionen erleben will, hätte vor fünf Jahren nach Biarritz reisen müssen – oder bekommt sie heuer im Forum Leverkusen als Gastspiel geboten. Kompliment.
Michael S. Zerban