Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CASH OR CHECK u.a.
(Jon Lehrer Dance Company)
Besuch am
9. März 2016
(Einmaliges Gastspiel)
Es ist kalt geworden in Deutschland. Ob Jon Lehrer das wahrnimmt oder doch eher den Auftritt seiner Compagnie und deren warmherzigen Empfang 2013 noch in allzu guter Erinnerung hat, wissen wir nicht. Aber jetzt ist er zurückgekehrt, um das neue Programm seiner Tänzerinnen und Tänzer vorzustellen – und wird im ausverkauften Forum empfangen.
Jon Lehrer studierte in Buffalo Tanz, durchlief eine gründliche Ausbildung zum Choreografen, um schließlich nach Buffalo zurückzukehren und dort eine eigene Compagnie zu gründen. Acht Tänzerinnen und Tänzer umfasst die Gruppe, die der Philosophie folgt, „organisch-athletische“ Choreografien zu entwickeln. Die Bewegung erfolgt also nicht aus der Muskelkraft heraus, sondern folgt einem Impuls. Angesichts der gestählten Körper, die sich auf der Bühne bewegen, kann man da durchaus seine Zweifel haben. Was aber eigentlich dahinterstecken mag, ist die intensive und gesundheitserhaltende Beschäftigung mit dem Körper, ohne dass sich der Zuschauer damit auseinandersetzen muss. Für den darf der zeitgenössische Tanz sogar unterhaltsam sein.
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Und das beweist das Corps gleich in seiner ersten Choreografie. Cash or Check war in den 1920-er Jahren eine beliebte Redewendung, die die Frage umschrieb: „Willst du mich jetzt gleich oder später küssen?“ Gedachter Ort ist ein amerikanischer Nachtclub, zu sehen ist davon wie über den gesamten Abend nichts. Die Bühne bleibt leer, lediglich an der Rückseite ist eine weiße Projektionsfläche angebracht, die in das überwiegend miserable Lichtdesign von Kam Hobbs eingebunden ist. Eines Tages werden die Menschen mit LED-Taschenlampen in Tanzaufführungen gehen, um das Geschehen auf der Bühne erkennen zu können. Denn die Leistungen der Tänzer brauchen solche Verschleierungstaktiken jedenfalls an diesem Abend ganz und gar nicht. Mit viel Humor und Witz werden hier die wilden Tänze der 1920-er auf künstlerisches Niveau gebracht. Das Publikum ist perfekt eingestimmt.
Und so geht es wie in einem Traum in der Nacht – so der Titel der folgenden Choreografie – weiter. Zur Disko-Musik der 1980-er/90-er Jahre erleben die Zuschauer, was das Besondere an der Compagnie von Jon Lehrer ausmacht. Was gerade in Europa als neues Paradigma ausgegeben wird, ist dort längst gelebte Selbstverständlichkeit. Nicht Jon schreibt seinen Tänzern vor, was sie zu tun haben, sondern sie, nachdem sie die Lehrer-Schule durchlaufen haben, entwickeln die Choreografien selber mit. Nicht ohne allerdings den amerikanischen Drill zu vernachlässigen, der zu exakt synchronen Abläufen führt, wo sie gewollt sind. Und das ist wunderbar anzusehen.
Exotisch – und damit auch ein wenig problematisch – wird es in Chukchi, einer Hommage an die Ureinwohner der Region um die russische Stadt Anadyr. Die Kostüme von Laura Vanner, die für die meisten der Kostüme dieses Programms zuständig ist, sind fantastisch im doppelten Wortsinn, erinnern aber mehr an Amazonas-Ureinwohner und die stampfenden Rhythmen kann man wohl auch eher dem Klischee eines „Negerstamms“ zuordnen. Das Ganze säuft dann vollends in der Dunkelheit ab. Damit ist die vorübergehende Talsohle aber auch durchschritten.
Spätestens bei Femeie de Lume wünscht man sich, wie schon bei den ersten beiden Stücken, Live-Musik anstatt dröhnender Boxen. Die Frau von Welt, so die Übersetzung des rumänischen Titels, großartig dargestellt von Colleen Walsh, erhebt sich über vier Männer, ohne sich aus deren Abhängigkeit lösen zu können. Tänzerisch wie ausdrucksstark überwältigend und – das glaubt man jetzt nicht – mit zwei grandiosen Lichteffekten eines der stärksten Stücke des Abends. Sicher gleichauf mit dem Solo von Rachael Humphrey, Rascal, in dem sie „alleine ist und alles machen darf, was sie will“. Nun, das erlebt man hier sicher nicht, aber die Choreografie zeigt in der ihr innewohnenden Kraft Magie.
Viel Spaß haben und machen die Tänzer in Loose Canon zum Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel, ehe sich das Ensemble beim Pantheon Rising zur Originalkomposition von Damien Simon in himmlische Gefilde erhebt.
Das Publikum, dass sich schon immerzu im Szenenapplaus ergeht, reißt es von den Sitzen, als der letzte elektronische Schlussakkord verklungen und das Licht erloschen ist. Stehend erlebt es den Auftritt von Jon Lehrer mit einer kurzen, gelungenen Tanzeinlage, vor Begeisterung tobend der vollbesetzte Saal die Zugabe, bei der alle Anspannung von den Tänzern abgefallen ist und sie sich einfach noch mal gelöst zu irgendwelchen Mambo-Klängen bewegen. Leverkusen hat – wieder einmal – einen einzigartigen Tanzabend erlebt.
Michael S. Zerban