Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Das Ensemble Oni Wytars - Foto © Michael Rathmann

Aktuelle Aufführungen

Franz von Assisi trifft Bürgerrechtsbewegung

I HAVE A DREAM
(Kölner Fest für Alte Musik)

Besuch am
27. Februar 2016
(Eröffnungsveranstaltung)

 

Zentrum für Alte Musik, Köln,
Balloni-Hallen

We shall overcome today“, hallt es durch den zugigen Saal der Balloni-Hallen, der eigentlich für 60. Geburtstage, Kongresse, Firmenjubiläen und Ähnliches vorgesehen ist. Im Stadtteil Ehrenfeld, kaum einen Steinwurf vom Zentrum für Alte Musik (Zamus) entfernt, findet in der historischen Industriearchitektur die Eröffnungsveranstaltung des sechsten Kölner Fests für Alte Musik statt, das wie der Abend unter dem Titel I have a Dream steht. Thomas Höft, Leiter des Zamus und des Festivals, hat für den Abend ein Programm zusammengestellt, wie es gegensätzlicher auf den ersten Blick kaum sein kann. Und so kommt es, dass am Ende des Abends alle Anwesenden aufgestanden sind und gemeinsam die „Hymne“ der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten von Amerika singen.

Eine Freiheitsbewegung der etwas anderen Art gab es bereits im Mittelalter.  Im 13. Jahrhundert bildeten meist einfache Leute religiöse Bruderschaften, um die Botschaft der geistigen Erneuerung des Franz von Assisi in Lobgesängen in die Welt hinauszutragen. Erhalten blieb aus dieser Zeit das Laudario di Cortona, eine Liedersammlung, die nicht mehr in lateinischer Sprache, sondern in regionalen Dialekten verfasst war, die dem späteren Italienisch sehr ähnlich klingen. Das Ensemble Oni Wytars präsentiert die vollständige Liedersammlung zu Beginn des Abends auf historischen Instrumenten. Venite a laudare – Kommet, um zu loben – ist das Programm überschrieben. Nach einem etwas verhaltenen Beginn, bei dem Peter Rabanser auf dem Dudelsack Cristo è nato spielt und zeitgleich singt, nimmt der Abend allmählich Fahrt auf. Belinda Sykes zeigt mit ihrem Gesang die arabischen Einflüsse auf, während Rabanser neben frischem Lautenspiel den italienischen Lobgesang kraftvoll schön formuliert. Riccardo Delfino an der Harfe und Michael Pösch mit verschiedenen Blockflöten sorgen für die Klangfülle. Marco Ambrosini entwickelt die Maultrommel zu einem erstaunlich klangstarken Instrument, stiehlt aber letztendlich allen die Schau mit seinen Künsten an der Schlüsselfidel. Überraschender eigentlich nur noch die Herrin der Rhythmusinstrumente, Katharina Dustmann, wenn sie zeigt, was man mit zwei Muscheln musikalisch alles anstellen kann. Insgesamt gibt das Ensemble schon mal einen Ausblick auf das, was das Festival nach Auffassung von Höft so interessant gestalten wird: Alte Musik kann sensationell heutig sein.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Abraham Lincoln hingegen hätte wohl 1863 bei der Unterzeichnung der Emanzipations-Proklamation – „Dass vom 1. Tag des Januar im Jahre des Herrn 1863 an alle Personen, die in einem Staat oder dem bestimmten Teil eines Staates, dessen Bevölkerung sich zu diesem Zeitpunkt in Rebellion gegen die Vereinigten Staaten befindet, als Sklaven gehalten werden, fortan und für immer frei sein sollen.“ – auf der Stelle der Schlag getroffen, wenn er gewusst hätte, dass das damalige Liedgut heute aktueller denn vor Jahrhunderten ist. Geschätzte 20 bis 30 Millionen Menschen weltweit sind Opfer moderner Sklaverei und Menschenhandels. Grund genug für Kim und Reggie Harris, die seit mehr als 30 Jahren auf der Bühne stehen, über, wie man heute sagen muss, die Anfänge der Sklavenbefreiung zu berichten. An Beispielen bekannter Songs wie Go Down Moses oder Wade in the Water, mit Hilfe von selbstkomponierten Liedern wie Heaven is less than fair oder dem Lieblingssong von Martin Luther King – Free at Last – zeigen die Künstler auf Englisch die Liedkommunikation der ersten Sklaven auf. Ihre höchst eigene Interpretation der Songs, die manchmal zu sehr dazu neigt, das Material über Gebühr in die Länge zu ziehen, wie auch die Animationsfreudigkeit schwächen ein wenig das Potenzial ihrer Erzählung aus vergangenen Jahrhunderten, die wir längst überholt glaubten.

Kim und Reggie Harris - Foto © Michael Rathmann

Aus kindlich-naiver vulgo amerikanischer Sicht ist es ja das Normalste auf der Welt, die Menschen im Saal zum Mitsingen beispielsweise eines Spirituals aufzufordern. In Deutschland müssen die Menschen gerade wieder lernen, dass man nicht einfach so mitmacht. Sondern sehr genau überlegen muss, wem man sich da so anschließt. Nachdem Kim erklärt, warum es auch heute oder gerade heute notwendig ist, darüber zu singen, dass wir „es“ überwinden werden, erhebt sich das Publikum langsam, aber ohne Zögern und singt gemeinsam mit Kim und Reggie Harris sowie Oni Wytars, die sich wieder auf die Bühne gesellt haben, um gemeinsam mit den Amerikanern zu musizieren – diesmal klingt ihr Venite a laudare erheblich gelöster und freudiger – und dabei mag sich jeder so seine Gedanken gemacht haben, was es eigentlich zu überwinden gilt.

Schon von der ersten Minute an also eröffnen sich beim Fest Alter Musik in Köln eine Menge von Gedankenfeldern. Das Publikum dankt mit intensivem Applaus. Und die Vorfreude auf das, was noch kommt, steigt drastisch an.

Michael S. Zerban