Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
KULT
(Tage Alter Musik in Herne)
Besuch am
14. November 2015
(Einmalige Aufführungen)
Tage Alter Musik in Herne,
Kreuzkirche und Kulturzentrum
Samstagnachmittag, Nieselregen. Die Dämmerung bricht mit unfreundlichem Grau herein. In der vollbesetzten Kreuzkirche in Herne ist es zugig. Das heißt es für das Immunsystem: stark sein. Denn es lohnt sich. Das Alla Turca Kollektif hat ein Programm zum Stichwort Turkomania zusammengestellt. Die neun Musiker spielen französische Turquéries und Musik osmanischer Gesandtschaften des 17. und frühen 18. Jahrhunderts auf Originalinstrumenten. Es ist die Zeit, in der mindestens in Frankreich alles Orientalische Kult ist. Und damit ist dann auch der Bezug zum diesjährigen Thema der Tage Alter Musik in Herne hergestellt. Dass das Orientalische in unseren Tagen solche Aktualität erhält, war vielleicht bei der Planung des Festivals noch gar nicht so absehbar. Lernen kann man von den Vorfahren allemal. Sind die doch mit einer gehörigen Portion Neugier und Begeisterung auf die fremde Kultur zugegangen, anstatt religiöse Zugehörigkeiten zu Feindbildern aufzubauen. Krieg gab es vor der großen Begeisterungswelle damals allerdings auch schon. Die Expansionspolitik des Osmanischen Reiches wirbelte in Europa ziemlich viel Staub auf. Sorgte aber auch dafür, dass die vor allem musikalisch so unterschiedlichen Kulturen aufeinandertrafen. Ja, in einen Dialog traten. Diesen Dialog will das Alla Turca Kollektif in seinem Programm aufzeigen.
Nach einer Schweigeminute für die Pariser Opfer der vergangenen Nacht beginnt Marin Marais‘ Komposition über das Glockengeläut einer Kirche in Paris, an die nahtlos der muslimische Gebetsruf Ezan anschließt, vorgetragen vom Sänger Ali Ugur Aitinok, dessen sanfte, gutturale Stimme auch in der übrigen Aufführung überzeugt. Daran schließt sich der Vortrag einer Auswahl von Werken französischer und osmanischer Komponisten an. Das Zusammenspiel von Barockgeige, Viola da Gamba, Oboe und Theorbe mit Tambur, Rebab, Kanun und Perkussionsinstrumenten ergibt einen gefälligen, eingängigen Klang. Der allerdings wirkt auf das heutige Publikum nicht mehr so ganz exotisch wie auf die Franzosen vergangener Zeiten. Und so ist nach einer Stunde eigentlich alles gesagt respektive gespielt und gesungen. Für das Kollektif aber ist dann erst der Zeitpunkt der Pause gekommen. Also geht es nahezu eine Stunde weiter mit der Musik von Janitscharen und Derwischen, Kompositionen von Jean-Philippe Rameau und Jean-Baptiste Lully. Alles sehr schön, und so bedankt sich das Publikum kurz, aber herzlich. Denn an diesem Abend steht noch wahrhaft Ungewöhnliches an.
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Es regnet Bindfäden, die Außentemperatur ist deutlich abgesunken und die Dunkelheit endgültig hereingebrochen. Im Kulturzentrum, gerade mal 200 Meter von der Kreuzkirche entfernt, ist es kuschelig warm. Im Saal ist nahezu jeder Platz besetzt. Einer der Höhepunkte des Alte-Musik-Festivals steht bevor. Der Teufelsgeiger bittet zum Konzert. Niccoló Paganinis Konzert Nr. 1 D-dur op. 6, entstanden zwischen 1816 und 1818, steht auf dem Programm. „Virtuoseste Bogenführung, Lagenspiel bis in höchste Höhen und Doppelgriffe im Flageolett, bei dem die Finger die Saiten nur zart berühren, um gläsern-filigrane Obertöne zum Klingen zu bringen“ sind dem Solisten aufgetragen. Am heutigen Abend handelt es sich um die Violinistin Chouchane Siranossian, die mit einer Guarneri-Geige mit Darmsaiten in die Fußstapfen des Magiers treten will. Ihr zur Seite steht das Orchester L’Arte del Mondo unter der Leitung von Werner Ehrhardt. Die Exaltiertheit des Meisters, wie wir sie uns heute vorstellen, wird wohl kein Lebender mehr erreichen. Das versucht Siranossian auch gar nicht erst. Stattdessen besticht sie mit Virtuosität, ergeht sich in der Einzigartigkeit des Konzerts und kann das Publikum vollkommen begeistern. Vielleicht gibt es den einen oder anderen im Publikum, der darüber nachdenkt, wie viel mehr Glanz möglich gewesen wäre, wenn diese Künstlerin mit einem weiter entwickelten Instrument aufgetreten wäre. Aber das ist ja nicht Thema eines Alte-Musik-Festivals. Im Gedenken an die Opfer von Paris schließt die französisch-armenische – darauf weist sie explizit in ihrer Ansprache hin – Geigerin mit der Meditation Havun Havun des Mönchs Grigor Narekatsi aus dem 11. Jahrhundert.
Im Anschluss präsentiert L’Arte del Mondo die Jupiter-Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart im Alte-Musik-Sound. Der „warme Klang“, der der Alten Musik gerne nachgesagt wird, ist auch hier zu hören. Das Strahlen Jupiters fehlt. Ärgerlicher aber ist die Reihenfolge, die die Dramaturgie hier gewählt hat. Statt des wunderbaren Vortrags Siranossians im Ohr, geht es mit einem eher dumpfen Jupiter nach Hause.
Dieser Patzer wird am letzten Tag des Festivals ausbleiben. Dann steht allein der nächste Höhepunkt auf dem Programm: die Oper Camilla von Giovanni Bononcini.
Michael S. Zerban