Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Oliver Vogel

Aktuelle Aufführungen

So schön gestorben

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)

Besuch am
8. Juli 2016
(Premiere)

 

 

Opernfestspiele Heidenheim, Rittersaal

Bis 16 Uhr wissen die Akteure nicht, auf welcher Bühne sie am Abend auftreten werden. Erst wenn dann der Wetterdienst Regenfreiheit verspricht, wird die Open-Air-Bühne im Rittersaal der Schlossruine Hellenstein freigegeben. Ansonsten geht es in das Congress Centrum, in dem die Ausweichbühne ebenfalls komplett eingerichtet ist.

An diesem Nachmittag ist das Thermometer auf 30 Grad Celsius geklettert, und ein paar Schönwetterwolken können den Sommerspaß nicht trüben. Es gibt also keinen Grund, auf die Aufführung des „Wintermärchens“ La Bohème unter freiem Himmel zu verzichten. Es ist die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte Heidenheimer Opernfestspiele. Und vielleicht die Überraschung des Jahres in Sachen Finanzierung. Ein Stadtrat hat eine deutliche Erhöhung des Festival-Budgets durchgewunken. Damit kann Marcus Bosch, der Künstlerische Leiter des Festivals, Generalmusikdirektor am Staatstheater Nürnberg und ab dem kommenden Wintersemester Professor für Dirigieren in München, die Festspiele weiter ausbauen. Sein Vertrag wurde vorzeitig bis 2020 verlängert, nachdem er seit seinem Amtsantritt 2010 die Besucherzahlen nahezu verdoppelt hat. Finanziell vernünftig ausgestattet, werden in diesem Jahr erstmals drei Opernproduktionen angeboten. Neben der Kinderoper Rocke und die Zaubertrompete wird es Anfang August Giuseppe Verdis erste Oper Oberto. Conte di San Bonifacio geben, die den Auftakt für eine Reihe von Verdi-Opern darstellt. Vorerst aber dürfen die Premierengäste sich in das winterliche Paris versetzen lassen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Regie hat Petra Luisa Meyer übernommen. Ihr Erfolg mit Cavalleria Rusticana und Il Bajazzo vor zwei Jahren lässt darauf hoffen, eine der besseren Inszenierungen des Wohngemeinschaft-Klassikers zu erleben. Einen Gefühlsrausch will Meyer entfachen und so dem Titel der diesjährigen Festspiele gerecht werden. Lustvoll soll es zugehen zwischen den Menschen auf der Bühne. Die Geschichte zählt, nicht irgendeine Interpretation. Also hält sich Bühnenbildner Detlev Beaujean an die Original-Schauplätze, die er allerdings ausgesprochen fantasievoll umsetzt. Gleich zu Beginn ist alles schneebedeckt. Erst nach und nach müssen die Akteure die Requisiten von ihren weißen Planen, Laken und Tüchern befreien. Die Rückwand des Rittersaals hat die Regisseurin dieses Mal nicht mit einbezogen. Stattdessen hat Beaujean sie mit weißen Laken verhüllt, hinter denen sich einerseits Prospekte verbergen, andererseits wird ein Weihnachtsbaum aufgebracht. In der Mitte der Bühne ein weißer Flügel, ausgeweidet und inwendig mit der Aufschrift Café Momus versehen, so dass hier schnell ein Ortswechsel vorgenommen kann. Selbsterklärend das Mobiliar wie etwa Stühle und Tische für das Café, ein Sofa und ein alter Eisenofen für die Dachwohnung, die zu beiden Seiten mit weißer Plastikfolie zur Außenwelt abgegrenzt wird. Die Kostüme von Cornelia Kraske sind zeitlos gegenwärtig, auch wenn man bei dem einen oder anderen über Geschmack nicht streiten darf. Beim Licht hat Hartmut Littinger sich wirklich Gedanken gemacht und vor allem Abendstimmung und Einbruch der Dunkelheit richtig kalkuliert. So entsteht eine unterschwellig packende Dramaturgie, die am Ende auch ein paar im besten Sinne sentimentale Projektionen zulässt. Was den Gesamteindruck von Meyers Arbeit und deren Schlüssigkeit ausmacht, hat sicher auch damit zu tun, dass sie sich dem Dogma der Demokratisierung auf der Bühne verweigert. Als sie erfährt, dass ihr Colline ein begnadeter Eishockey-Spieler ist, setzt sie ihn kurzerhand auf Kufen und lässt ihn auf der weißen Plastikfolie herumkurven – gegen alle Widerstände und zu Recht. Randall Jakobsh, erfahren im Umgang mit Eis, probiert mit Rollerblades. Ihm ist der unsolide Untergrund suspekt. Aber Meyer setzt sich durch. Und was das Publikum zu sehen bekommt, ist ein randständiges wie begeisterndes Detail einer durchgängig lebhaften, flüssigen und kurzweiligen Inszenierung, die zu keinem Zeitpunkt an der Rampe erstarrt oder sonstige Langeweile aufkommen lässt. Schon in der Pause ist ungewöhnlich viel Wohlwollen beim Publikum zu vernehmen.

Michaela Maria Meyer als Musetta - Foto © Oliver Vogel

Das bezieht sich auch auf das Bühnenpersonal, das, von Meyer ungemein präzise geführt, mit viel Spielfreude und hoher Stimmqualität aufwartet. Eine Bohème ist nur die Hälfte, wenn die Mimì nicht so richtig schön stirbt. Das beweist einmal mehr Stefania Dovhan.  Bei den Damen im Publikum werden die Taschentücher in Rekordzahl gezückt, bei den Herren ist es klischeehaft häufiger das Räuspern, das auf der steilen Tribüne zu hören ist, als der Abgesang der sterbenden Schönheit erklingt. Konkurrenz kann ihr allenfalls auf stimmlicher Ebene Michaela Maria Mayer als Musetta bieten. Die allerdings gefällt in allen Registern außerordentlich. Was das Libretto schauspielerisch zulässt, wird von ihr überzeugend dargeboten.

Es macht durchaus Sinn, sich als indisponiert ansagen zu lassen. Jesus Garcia verzichtet darauf. Und so ist das Erstaunen groß, als er in seiner Paraderolle in Heidenheim ziemlich blass bleibt. Sein Gesang bleibt an vielen Stellen schwach, kommt hier und da nicht über den Graben und passt zu einem eher faden Spiel. Da wird viel gemunkelt in der Pause, ehe Bosch bei der Premierenfeier die Erklärung nachliefert. Antonio Yang als Marcello, Florian Götz in der Rolle des Schaunard und Randall Jakobsh, der in der zweiten Hälfte nicht von den Kufen kommt, spielen und singen tadellos wie die Besetzungen der weiteren Rollen.

Einen starken Auftritt legt der Tschechische Philharmonische Chor Brünn unter Leitung von Petr Fiala und Jan Ocetek hin, Spielfreude inklusive.

Ein weiterer Höhepunkt des ohnehin gelungenen Abends sind die Stuttgarter Philharmoniker. Unter der Hand von Marcus Bosch, der sich nicht nur um die Balance zwischen Bühne und Graben kümmert, finden die Musiker zu feinen Akzenten und kitzeln bei Puccini eine feingesponnene Musik heraus, wie man sie in dieser Klarheit nicht so oft hört.

Klar, eindeutig und eindrucksvoll auch der Applaus des dankbaren Publikums, das seine Erwartungen rundherum bestätigt sieht. Der Wagner-erfahrene Bosch hat bereits verraten, was im kommenden Jahr auf dem Programmzettel steht: Der fliegende Holländer. Dann wird sich zeigen, ob Bosch das glückliche Händchen nicht nur am Pult, sondern auch bei der Auswahl des Regisseurs erneut beweisen kann.

Hören Sie auch den Audiobeitrag mit Petra Luisa Meyer.

Michael S. Zerban