Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ALCINA
(Georg Friedrich Händel)
Besuch am
15. Februar 2016
(Premiere)
Grand Théâtre de Genève,
Opéra des Nations
Das Grand Théâtre in Genf ist geschlossen. Eröffnet wird die Opéra des Nations. Ein Holzhaus, kaum 50 Meter vom Sitz der Vereinten Nationen in Genf entfernt. Tobias Richter, Intendant der Genfer Oper, hat sich für die Zeit der Erneuerung des Grand Théâtre für ein Ersatzquartier statt verschiedener Ausweichspielstätten entschieden, und die Genfer Bürger haben seine Idee mitgetragen. Elf Millionen Franken haben sie für den Bau der Opéra des Nations ausgegeben. Nur wenige Straßenbahnstationen vom Hauptbahnhof entfernt, mit 1500 Parkplätzen in unmittelbarer Nähe, strahlt es, mit allen Funktionalitäten ausgestattet, den Charme der Improvisation aus und weckt so möglicherweise die Neugierde von manch einem, der sich von der historischen Fassade des Monumentalbaus am Rive gauche eher abgeschreckt fühlte.
In den kommenden zweieinhalb Jahren, so viel Zeit ist vorerst für den Umbau des Grand Théâtre geplant, soll ein Programm gezeigt werden, das dem kleineren Bühnenraum und der geringeren Bühnenausstattung angepasst ist. Zum Einstand gibt es Georg Friedrich Händels Alcina. Falko Herold verlegt die Handlung in eine verfallende Wohnhalle. Eine erblindete Vitrine und eine Art Kleiderschrank rahmen im Hintergrund eine überdimensionale Doppelschiebetür ein. Rechts ein ausgestopfter, aufrecht stehender Bär, davor ein Globus, in dem sich eine Bar verbirgt. In der Mitte des Raumes zwei lange Esstische mit Stühlen. Diese Konstellation wird im Laufe der kommenden annähernd drei Stunden schleichend demontiert werden, während immer mehr Koffer ins Spiel kommen. Je nach Bedarf werden Projektionen über den gesamten Raum gelegt, in den bereits die Natur Einzug hält. Gras breitet sich auf dem Bühnenboden aus, ein paar Blumen darben an der Rampe. Laub ist im Raum verteilt. Michael Bauer lässt wohldosiertes Licht durch die Jalousien fallen, die in der oberen Raumhälfte eingebaut sind. Nur wenige Spezialeffekte deuten die Zauberkräfte Alcinas und deren Schwinden an. Bettina Walter steckt die Akteure in fantasievolle Kostüme, arbeitet sich insbesondere am Verfall Alcinas mit wechselnden, ständig reduzierteren Kostümen und Perücken ab. In diesem zauberischen Umfeld erzählt Regisseur David Bösch transparent die Geschichte von der Zauberin, die ihren Geliebten nicht gehen lassen will, und den Menschen, die ihm zur Flucht verhelfen. Aktuelle Bezüge sucht man hier vergebens. Bösch konzentriert sich auf die ursprüngliche Geschichte und seine Personenführung, sorgt für ausreichend Bewegung auf der Bühne und verschafft den Sängern genügend Freiraum, ihre zahlreichen Arien ohne Zusatzanstrengungen darzubieten.
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Die sechs Solisten danken es, indem sie nahezu durchweg ohne Ausfälle ihr Bestes geben. Als Oronte debütiert Anicio Zorzi Giustiniani am Grand Théâtre und gefällt in Spiel und Stimme. Ebenso sein männlicher Kollege, der Bariton Michael Adams, als Melisso. Siobhan Stagg, die bereits als Marzelline in Fidelio am Grand Théâtre erfolgreich im Einsatz war, zeigt viel Spieleinsatz und kann ihren Sopran als Morgana, Alcinas Schwester, meist erfolgreich gegen das Orchester durchsetzen. Kristina Hammarström, noch ein Debüt, verleiht der Bradamante viel – gewollte – Männlichkeit, berückt später mit ihren Koloraturen, die haarfein gesponnen sind. Als Ruggiero begeistert Monica Bacelli, die den Genfern bereits als Isolier in Le Comte Ory bekannt ist. Sie alle stellt eine weitere Debütantin in den Schatten. Nicole Cabell interpretiert Alcina meisterhaft, sowohl was den Gesang als auch was ihr Schauspiel angeht. Mit samtiger Stimme gelingt ihr, dem Publikum die Gefühlswelt der Titelheldin näherzubringen, während sie ihren eigenen Verfall hingebungsvoll spielt, angefangen vom Auftritt einer wahren Königin bis zum Abgang als vernichtete Person. Glänzend auch die Gesamtleistung des Teams, das sich als geschlossene Einheit zeigt – durchaus keine Selbstverständlichkeit im Stagione-Betrieb.
Vor der Bühne ist ein etwas breiterer Gang eingebaut, den man mit viel Liebe als Graben bezeichnen könnte. Schön für das Publikum, das hier die Atmosphäre nicht nur hören, sondern auch miterleben kann. Angetreten sind das Orchestre de la Suisse Romande und die Cappella Mediterranea. Unter vollem Körpereinsatz von Leonardo García Alarcón erwecken die Musiker die warme Akustik des Saals in historisch informierter Aufführungspraxis zum Leben. Das bekommt nicht nur der Händelschen Musik gut, sondern ist in der Besetzung auch saalfüllend.
Das Publikum klatscht gern und häufig, häufiger und lauter, je mehr es dem Ende zugeht, weil es sich zunehmend von dieser so ganz anderen Welt der Alcina gefangen nehmen lässt. Ansonsten geht es, was die Erkältungssymptome angeht, angenehm gesittet zu. Nach drei kurzweiligen Stunden wird das gesamte Team gefeiert. Die obligaten drei Buhs für den Regisseur gehen in Begeisterungspfiffen und Bravo-Rufen unter. Die Opéra des Nations hat einen sauberen Start hingelegt, der auch durchaus deutsche Opernfreunde zum Besuch animieren kann. Zumal die Flugverbindungen zwischen vielen deutschen Städten und Genf erheblich verbessert wurden.
Michael S. Zerban