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Aktuelle Aufführungen

Es werde Licht

B3 VERTANZT
(David Dawson, Bridget Breiners,
Benvindo Fonseca )

Besuch am
31. Januar 2016
(Premiere)

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Der zeitgenössische Tanz apostrophiert für sich, Grenzen überwinden zu wollen und erlegt sich gleichzeitig Konventionen auf, die kaum noch ein Außenstehender nachvollziehen kann. In Gelsenkirchen werden gleich ganze Konzerte und Sinfonien vertanzt. Und wer nicht mitmachen will, bleibt eben weg. Zeitgleich läuft ein paar Kilometer entfernt, in Essen, die letzte Aufführung des Handlungsballetts Der Nussknacker. Das nennt man eine luxuriöse Ausgangssituation für das Publikum. Tatsächlich bleiben bei der Premiere von B3 vertanzt einige Plätze frei, der Rest ist allerdings von internationalem Publikum besetzt. Von Gelsenkirchen-Buer bis Lissabon reicht die Bandbreite. Ambitioniertes steht auf dem Programm.

Es gibt Stadttheater, die zeigen lieber den Maskenball anstatt Un ballo di maschero von Giuseppe Verdi, damit sie ihre Abos verkaufen können. In Gelsenkirchen gibt es ein internationales Publikum – zumindest bei der Premiere – internationale Gäste und eine international besetzte Compagnie. Da dürfen die Titel der Stücke ja wohl englisch sein. Zumindest, bis die Gelsenkirchener anders entscheiden. Und so gibt es für die orchestrierte Erstaufführung statt süßen Vergessens den Titel A sweet spell of Oblivion. David Dawson verarbeitet darin neun Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach, um das Vergessen als Ort Oblivion festzumachen, ohne eine zeitliche und räumliche Eingrenzung zu treffen. John Otto baut dazu ein Segel in den Bühnenhintergrund, während Yumiko Takeshima die Tänzerinnen und Tänzer in schillernde Trikots kleidet. Weil Dawson die ästhetische Überhöhung will, setzt Bert Dalhuysen kleines, bronzefarbenes Licht, das nahezu unverändert stehenbleibt. Das Ensemble agiert also, schon möchte man sagen: wie üblich, im Halbdunkel. Am Ende des Abends wird man beurteilen können, dass es mit Abstand das langweiligste der drei Werke war, ohne die tänzerische Leistung schmälern zu wollen. Nicht immer begeistern konservative Aufführungen.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dagegen setzt Bridget Breiner, Direktorin und Primaballerina der Compagnie, eine Neufassung ihrer 2009 in Mannheim uraufgeführten Choreografie Hold lightly, in der sie Ludwig van Beethovens drittes Klavierkonzert vertanzen lässt. Zunächst einmal wird es wunderbar hell auf der Bühne. Bonnie Beecher arbeitet ausschließlich mit Fassetten weißen Lichts. Das passt zur Bühne von Jürgen Kirner. Der benötigt erst einmal nur eine weiße Spielfläche, auf der die Tänzer sich an silberfarbenen Eimern abarbeiten können – was immer auch Eimer mit einem Klavierkonzert zu tun haben. Die Idee ist verwirrend, letztlich aber ansprechend. Für den zweiten Teil hat Kirner ein Rechteck aus vier Traversen bauen und ein geschlitztes Tuch dazwischen aufspannen lassen. Diese Konstruktion schwebt von der Decke, verändert häufig ihre Lage und bietet Breiner ausreichend Spielraum für ein zeitgemäßes klassisches Ballett. Und weil so ein Klavierkonzert reichlich lang ist, gibt es im dritten Teil noch rote Eimerchen, um die sich die Tänzer streiten können, wie man es aus dem Sandkasten kennt. Das alles ist mit Witz, Herz und Verstand, vor allem aber mit einem Höchstmaß an Können gemacht, wenn auch als Bestandteil eines Triptychons ein wenig zu lang, um nicht am Ende ermüdend zu sein.

Foto © Costin Radu

Einen Ballettabend über zweieinhalb Stunden anzusetzen, ist mindestens so mutig, wie die Stücke klassischer Komponisten anzubieten. Die dritte Choreografie des Abends basiert ebenfalls auf der Musik von Ludwig van Beethoven, gleich die zweite Sinfonie steht auf dem Zettel. Einzelne Gäste haben genug und verzichten auf das dritte Werk. Ein Fehler, wie Choreograf Benvindo Fonseca ihnen sicher über seine Uraufführung Dawn of an announced End verraten hätte. Er wählt eine Bewegungssprache, die nicht nur modern, sondern ungeheuer dynamisch ist, ohne das klassische Ballett zu verleugnen. Spitzentanz passt eben doch zu musicalähnlich getanzten Corps-Szenen, wenn man nur den Mut findet, es gelungen zu kombinieren. Und in einem Umfeld zu präsentieren, das man so noch nicht gesehen hat. Thomas Lempertz sorgt für die passenden Kostüme. Georgios Kolios gestaltet eine Bühne, die sich mehr traut als üblich. Sehr fokussiert eingesetzter Nebel schafft wenig Husteneffekte beim Publikum, dafür mächtig Atmosphäre. Ein Pas de deux findet einfach mal auf einem Hubpodium im hinteren Teil der Bühne statt. Es rieselt an den richtigen Stellen Kork. Und Mariella von Vequel-Westernach setzt das alles kongenial in ein Licht, das so manchen, der sich Lichtdesigner im Ballett nennt, blass werden lassen darf. Auch bei ihr gibt es Halbdunkel. In dem werden die Tänzer aber nicht zu Schemen, sondern ihre Konturen messerscharf gezeichnet. Natürlich gibt es hier auch blaues Licht. Aber darin ersäuft nicht die Szene, sondern die Reflektionen spiegeln sich auf den entblößten, schweißglänzenden Rücken der Tänzer. Wenn es Kork rieselt, dann fällt es nicht vom Bühnenhimmel, sondern bewegt sich konzentriert in einem Lichtkegel. Wenn das Corps auftritt, geht eine Lichtwelle über die Bühne. Und die Begegnung eines Tanzpaares findet in einer so raffinierten Beleuchtung statt, dass Bewegung schon gar nicht mehr vonnöten ist. Von Vequel-Westernach kennt nicht nur Oper, sondern sie weiß auch um die echte Dramaturgie von Licht. So würdigt man die Leistungen auf der Bühne.

Und als der letzte Kork in einem Aufschrei der Tänzer fällt, hält es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen. Zu groß die Spannung, die hier aufgebaut wurde.

Nicht von der Musik. Auch wenn Dirigent Valtteri Rauhalammi sich um Präzision und Einsatz bemüht, hält sich die Spielfreude der Neuen Philharmonie Westfalen in deutlichen Grenzen. Sinfonischer Glanz kommt hier nicht auf. Da kann auch Pianist Christian Nagel wenig retten. Kenner der klassischen Musik kommen hier kaum auf ihre Kosten.

Aber die sind offenbar auch nicht anwesend. Das Publikum tobt und feiert die wirklich großartige Leistung der Compagnie, die hier in so unterschiedlich gestrickten Stücken von Anfang bis Ende überzeugt. Fonseca, in der portugiesischen Heimat längst gefeierter Choreograf, hat ein wahrhaft überzeugendes Debüt in Gelsenkirchen abgeliefert. Da haben die Nussknacker unter den Ballettfreunden dann vielleicht doch was verpasst.

Michael S. Zerban