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Unpopulär erscheint das Sujet. Im Mittelpunkt steht ein verheirateter evangelischer Priester. Seine Ehefrau hat ihn betrogen. Das stellt ihn vor die Zerreißprobe. Giuseppe Verdi schuf daraus Stiffelio, eine Oper über die Religion der Gnade und göttlichen Absolution, dargestellt mit einem verheirateten Priester und Gottesdienstzeremonien auf der Bühne. Um 1850 waren solche Szenarien absolut undenkbar. Benedict Andrews bietet in Frankfurt eine schlüssige Aktualisierung und trägt damit wesentlich zur Rehabilitierung einer zu Unrecht vernachlässigten Verdi-Oper bei.
Verdis Verhältnis zum Glauben, zur Kirche, zur religiösen und politischen Funktion des Katholizismus bietet viel Diskussionsstoff. Übereinstimmung besteht in der Feststellung von Verdis lebenslanger Auseinandersetzung mit der Kirche im Spannungsfeld zwischen seinem eng an die Bibel geknüpften persönlichen Glauben und seinem konsequenten Antiklerikalismus. Das belegen viele seiner Briefe und Opern.
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Bestes Beispiel dafür bietet Stiffelio. Als Verdi das 1848 verfasste Schauspiel Le pasteur, ou L’évangile et le foyer von Émile Souvestre und Eugène Bourgeois kennenlernte, stand er noch unter dem Eindruck des scheinbar reformfreudigen und nationalen Hoffnungsträgers, Papst Pius IX. Als das dreiaktige Dramma lirico Stiffelio unter der Verwendung von Le pasteur, ou L’évangile et le foyer 1850 in Triest uraufgeführt wurde, hatte sich der Papst zu einem scharfen Gegner der liberalen Idee seiner Zeit gewandelt. Stiffelio wurde unter strengsten Zensurvorgaben zerstückelt. Erst in den 1990-er Jahren gelang eine originalgetreue Rekonstruktion. Zum Repertoire zählt Stiffelio bis heute nicht.
Benedict Andrews, in Island lebender Australier, von Haus aus Schauspielregisseur, nach Stationen in London, Kopenhagen, Berlin und Amsterdam jetzt in Frankfurt für die Regie verantwortlich, konzentriert den Blick nüchtern und messerscharf auf den Charakter der Protagonisten. Überaus differenziert stimmt er seine Personenführung auf die Musik ab und zeichnet das Bild einer unmenschlichen religiösen Gemeinschaft. Bühnenbildner Johannes Schütz schafft dazu größtmöglichen Raum auf doppeltem Drehbühnen-Untergrund mit einer kreuzförmigen Stahlkonstruktion, die einmal das Gotteshaus darstellt, einmal das Friedhofskreuz, ein anderes Mal zur Kanzel wird oder in Schieflage die Bedrohlichkeit des Augenblicks verschärft. Die bedrückend bedrohliche, nie Ruhe zulassende Grundatmosphäre spiegelt sich im Halbdunkel, aufgebrochen durch Lichtprojektionen, überdimensioniert Grau-Schwarz auf grellem Weiß oder messerscharf durchschnitten vom gleißenden Lichtstrahl, der sich nur kurz und blitzschnell durch die weiße Wand im Bühnenhintergrund bricht, wenn sich Türen öffnen. Gezielt spielt Victoria Behr durch ihre Kostüme auf die Mennoniten alter Ordnung an, stellvertretend für vergleichbare Gemeinschaften, die sich in unverrückbarer Schwarz-Weiß-Sicht nur auf Ehre, Pflicht, Schande und Gottesfurcht versteifen und damit alle menschlichen Abgründe verdrängen, die hinter dieser Fassade toben.
Dafür steht die Titelfigur, Stiffelio, der von allen umworbene Prediger, ein personifizierter Inbegriff der Heuchelei. Als Ehemann scheint er daran zu zerbersten. Mit Belcanto-Brillanz verkörpert Russell Thomas diese Verdische Tenorpartie. Auch Stanka ist ein Heuchler. Seine gestörte inzestuöse Beziehung zu seiner Tochter Lina übersetzt er in verlorene Ehre und bedingungslose Rachen. Der noch junge Dario Solari mimt den alten Greis nicht immer stimmlich perfekt, doch ausdrucksstark und charakterlich überzeugend. Lina, aus Andrews Sicht ob Tochter, Ehefrau oder Geliebte immer Objekt männlicher Begierde, erscheint in der Verkörperung von Sara Jakubiak stets als ein von anderen Mächten getriebenes willenloses Frau-Wesen, das auch im Augenblick höchstgöttlicher Vergebung nicht Erlösung findet, sondern bleibt, wozu sie die Gemeinschaft formte: schutzlos, willenlos, angstvoll, schuldig.
Jérémie Rhorer verstärkt diese scharf gezeichnete Sicht auf die erschütternden menschlichen Dramen durch ein überaus differenzierendes, auf Stringenz angelegtes Dirigat und fordert mit seiner allenthalben hörbaren Detailverliebtheit Höchstleistung vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Satt und gewaltig fahren die sakralen Chorgesänge, neuerlich von Tilmann Michael sorgsam einstudiert, unter die Haut.
Das Publikum dankt mit frenetischem Applaus für diese Wiederentdeckung einer Verdi-Oper, die dem Vergleich mit Verdis Nachfolgewerken problemlos Stand hält.
Christiane Franke