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Verweile doch, du bist so schön ...

FAUST
(Charles Gounod)

Besuch am
30. Januar 2016
(Premiere)

 

 

Aalto-Musiktheater Essen

Im Sommer 2015 feierte Faust in der Regie von Philipp Stölzl seine Premiere an der Deutschen Oper Berlin. Nun ist die Inszenierung nach Essen gekommen und wird hier vom Publikum begeistert aufgenommen. Dabei können sich an Stölzls Regie durchaus die Geister scheiden. Der Grundgedanke in Verbindung mit dem Bühnenbild von Heike Vollmer ist an sich genial und findet sich in der literarischen Vorlage von Goethe: „Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“

Kaum hebt sich der Vorhang und wird der Blick frei auf die karge Bühne, schießt einem dieses Verlangen des alten Faust ins Gedächtnis. Hier in einem Rollstuhl sitzend, der ihn mit lebenserhaltenden Maßnahmen versorgt, wird der immer wieder von kleinen Erinnerungen, Augenblicken heimgesucht. Eine kleine Drehscheibe um einen zugemauerten Drehpunkt fährt ständig wieder neue Konstellationen oder kleine Bühnenbilder vor das Auge des Zuschauers. Die Augenblicke rinnen an unseren Augen vorbei, mal schneller, mal langsamer. Faust ist mittendrin, genießen kann er seine neu gewonnene Jugend aber kaum.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Was auf den ersten Blick so spannend wirkt und zum Nachdenken anregt, wird auf den zweiten Blick Routine und dann mit dem dritten Blick nimmt man wahr, wie öde und hässlich der gesamte Mauerrahmen des technischen Aufwandes auf der Bühne ist. Für die Kostüme von Ursula Kudrna gilt ähnliches. Wenn der Filmregisseur Stölzl Chor und Randfiguren fast eingefroren auf die Bühne fährt, dann kann man quasi in Zeitlupe die Reaktionen auf Marguerite und Faust beobachten. Selbst wenn so unglaublich schnelle Szenenwechsel gelingen, kann der Spannungsbogen nicht gehalten werden. Im dritten Akt, der zwischen Tannenbäumen und Marguerites Minitaturwohnwagen abgespult wird, sehnt man die Pause herbei. Tatsächlich wird es nach der Pause wieder etwas besser, weil man nun im Schneetreiben eine neue und kalte Atmosphäre zu spüren bekommt, aber auch das wieder dann über die gesamte Länge des zweiten Teiles. Wenn Méphistophélès und Faust im fünften Akt in das Gefängnis einbrechen, wird das Bühnenbild endlich wieder in einem anderen Zusammenhang eingesetzt.

Foto © Karl Forster

Ärgerlich, aber vor allem überflüssig sind die Eingriffe in die Musik, die Stölzl vornehmen lässt. Er erklärt es zum einen damit, dass man das Musiktheater in ein unnötiges Korsett zwängt, wenn man nicht auch Änderungen an der Partitur zulässt. Zum anderen möchte er den Fokus auf die Gretchen-Geschichte legen. Allerdings hätte sein Konzept auch mit der Originalreihenfolge von Gounod funktioniert. Warum das Rondo vom Goldenen Kalb plötzlich und völlig unmotiviert im vierten Akt auftaucht, erschließt sich nicht. Auch Walpurgisnacht und die Kirchenszene haben darunter zu leiden. Der Erkenntnisgrad ist für den Zuschauer leider dadurch nicht größer geworden.

Welch ein Potenzial in dieser Inszenierung steckt, zeigen dann eher so intensive, boshafte Szenen wie die Ermordung des Valentin durch kichernde Schulmädchen. Oder dieser kitschige Traum Marguerites von der Hochzeit in Weiß. Das ist die Art von Augenblicken, die man gerne öfter haben möchte. Die anderen gehören der Musik. Denn hier gibt es etwas für Genießer. Auch wenn die Essener Philharmoniker nicht ihren besten Abend haben, kann man mit ihnen durch diese herrlichen Motive der französischen Oper schweben. Dirigent Sébastian Rouland hat sich an diesem Abend in Essen einige Freunde gemacht – so viel ist sicher. Wie sich Melodien mit Dramatik und Emotionen vermischen, wie er und das Orchester mit kleinen Details Geschichten erzählen können – das ist schon großes Kino.

Dagegen braucht der Chor in der Einstudierung von Patrick Jaskolka ein paar Akte, um in Form zu kommen. Anfangs wirkt er sehr dünnstimmig und unpräzise. Der Tenor bleibt in der Höhe stellenweise stecken. Doch in der letzten halben Stunde gibt die Sängerschar noch einmal richtig Gas, und wie sie Marguerites Erlösung zelebriert, ist schon bemerkenswert.

Im gleichen Finale vereinen sich auch drei Stimmen, um das Sängerfest endgültig zu zementieren: Jessica Muirhead scheint von Anfang an mit ihrem obertonreichen Sopran im Himmel zu schweben, selbst wenn sie im Ausdruck noch Tod und Hölle unterbringen muss und kann. Ihre so emotionale Marguerite macht deutlich, was dem Faust von Abdellah Lasri noch fehlt: die Wandelbarkeit im Klang. Trotzdem: Lasris Faust geizt nicht mit dem unbedingt nötigen, leidenschaftlichen Schmelz eines Tenores. Von wenigen kleinen Wacklern abgesehen, liefert er eine starke Aufführung. Zwischen diese vokalen Höhenflüge bringt Alexander Vinogradov mächtige Basstiefe. Er kommt ohne jegliche Überzeichnung als Teufel aus und ist doch so richtig schön abgrundtief böse. In den Nebenrollen wissen Almuth Herbst als Marthe Schwerdtlein und besonders Karin Strobos als Siébel zu gefallen. Martijn Cornet überzeugt als Valentin mehr durch sein engagiertes Spiel als durch seinen eng geführten Bariton.

So eindeutig überzeugend die musikalische Seite, so kann man über die Regie durchaus diskutieren – was ja auch Sinn der Sache ist. Anfangs scheint das aufmerksame Essener Publikum noch unsicher. Zwischenbeifall ist oft halbherzig und unsicher. Von ganz wenigen kommt sogar Szenenapplaus für das Schneechaos des vierten Aktes. Doch am Ende sind alle vereint: Orchester, Dirigent und nahezu alle Solisten werden gefeiert. Wenn es Ablehnung für Stölzl und sein Team geben sollte, dann geht sie in der deutlichen Zustimmung unter. Ein perfekter Augenblick für alle Beteiligten auf der Bühne.

Rebecca Hoffmann