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THE RAFT - DAS FLOß
(Gerhard Stäbler)
Besuch am
8. Juni 2016
(Premiere)
Seit einem Jahr residieren die Komponisten und Performance-Künstler Gerhard Stäbler und Kunsu Shim wieder im EarPort, einem kleinen Studio am Duisburger Innenhafen am Rande des von Dani Caravan gestalteten „Gartens der Erinnerung“, einer behutsam überarbeiteten Trümmerlandschaft in unmittelbarer Nähe der wieder erbauten Synagoge. Fünf Jahre lag das kleine Studio brach, weil nicht lösbare Mietfragen zum Auszug der beiden Künstler geführt haben. Die kleinliche Haltung des damaligen Duisburger Kulturdezernenten sorgte dafür, dass mit der Schließung des EarPorts die einzige nennenswerte Werkstätte experimenteller Musik in der 500.000-Einwohner starken Stadt beerdigt wurde.
Das hat sich vor einem Jahr geändert, und das Künstlerpaar nutzt das attraktive Gelände wieder für sehens- und hörenswerte Produktionen ganz eigener Art. Mit gängigen Vorstellungen und Konventionen ist den Ergebnissen nicht beizukommen. Auch das neueste, etwa anderthalbstündige Projekt lässt sich nicht einmal gattungsspezifisch definieren. The Raft – Das Floß ist eine Mischung aus szenischem Oratorium und Melodram, wobei sich der Aufführungsort aus dem Studio weit in den Park hinaus ausweitet. Das Publikum sollte gut zu Fuß sein, denn es gilt auch, einen hohen Turm zu besteigen.
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Raue, sich überstürzende Klänge erfüllen grell und brutal den kleinen Vortragssaal des EarPorts am Duisburger Innenhafen, wenn Gerhard Stäblers Musiktheater nach einer Voraufführung im Düsseldorfer Ballhaus, das 1937 anlässlich der „Großen Reichsausstellung Schaffendes Volk“ errichtet wurde, Station im „Garten der Erinnerung“ macht. Sieben Musiker des „Ensembles für experimentelle Improvisation“ der Kölner Musikhochschule lassen gleich mit den ersten Tönen keine Zweifel aufkommen, dass das Floß durch eine unwirtliche Welt reisen wird. Angerissene Klaviertöne, kieksend-kreischende Saxophonklänge und elektronisch verzerrte Sample-Einspielungen hinterlassen den Eindruck einer aus den Fugen geratenen Welt, wobei das Verhältnis von Improvisation und Vorgabe im Ungewissen bleibt.
Von einer Welt, die moralisch aus den Angeln gehoben wurde, handelt auch Peter Weiss‘ dickleibiger Roman Die Ästhetik des Widerstands, der auf den ersten Blick nicht gerade zu einer Vertonung einlädt. Zumindest nicht im Sinne einer traditionellen Oper. Für das Libretto destillierte Friederike Felbeck, die zugleich mit unauffälliger Hand Regie führt, sechs Szenen aus der gewaltigen Textvorlage. Texte, die Kriegs- und Verfolgungsszenarien von der Antike über den spanischen Bürgerkrieg bis zum Schicksal des Floßes der Medusa und der anti-nationalsozialistischen Widerstandsgruppe um die Rote Kapelle reflektieren. Dabei wirken Weiss‘ Texte am Überzeugendsten, wenn sie die Fassungslosigkeit des Autors angesichts der menschenverachtenden Vorgänge zum Ausdruck bringen. Weit weniger, wenn Weiss mit allzu aufdringlich belehrender Geste zum Widerstand aufruft.
Die Texte liest Stäbler selbst, einige Teile verdichtet die Sopranistin Alexandra von der Weth in rubinrotem Outfit mit expressiver Dichte zu aufrüttelnden Klagegesängen. Und immer wieder fahren die Musiker mit ihren wüsten Improvisationen den Protagonisten über den Mund.
Nach der dritten Szene öffnet sich die Jalousie des EarPorts und der Blick fällt auf den „Garten der Erinnerung“. Sichtbar wird eine Installation von Ulrike Edinger-Donat, die in ihrer schillernden Buntheit einen grellen Kontrast zu den dunkel und unauffällig gekleideten Musikern schafft, in ihrer collagenhaften Zerrissenheit aber durchaus mit der Musik korrespondiert. Äußerlich angelehnt an das Floß der Medusa dient ein aus groben Brettern gefügtes Podium als Quelle mannigfacher Assoziationen. Wir sehen Zeichen der Hoffnung, einen stilisierten Rettungsring, einen Spiegel, ein Gehölz, das an einen Galgen erinnert, und vieles mehr.
Das Publikum postiert sich vor der hölzernen Skulptur, von der Weth stimmt vor der einzigen neu gestalteten Kulisse des Stücks eine vor verzweifelter Energie berstende Elegie über den Zustand Europas an: Dieses Europa ist ohne Gestalt, während Gerhard Stäbler zu ihren Füßen fleißig das Donnerblech rührt. Der Saxophonist Salim Javaid lockt dann die Zuschauer zu einem kurzen Fußmarsch in Richtung Ludwigsturm. Hier ist völliges Schweigen angesagt. Die Besucher besteigen den Turm, während die Fenster auf allen drei Etagen zugemalt werden. Ein Gefühl der Isolation, der Abgrenzung schleicht sich ein. Das will man durch drei leibhaftige syrische Asylsuchende noch verstärken, die auf den drei Absätzen hocken und entsprechend verloren wirken. Keine schlechte Idee, in der Ausführung aber bedenklich. Findet doch keine Interaktion statt, so dass die drei seit Monaten in einer Kölner Turnhalle untergebrachten Männer wie Museumsstücke ausgestellt scheinen.
Zurück geht es in den EarPort. Edinger-Donat hat ihre Installation mittlerweile „zertrümmert“ und die Teile im Park verstreut. Die Musik nimmt sich immer mehr zurück, je bedrückender sich Weiss‘ Vorstellungen von den Ängsten der zum Tode verurteilten Mitglieder der Roten Kapelle verdichten. Von der Weth hat das letzte Wort mit der Botschaft: „Wir müssten selber mächtig werden. Dieser Griff, diese Bewegung, und den Druck, endlich hinwegfegen.“
Das Publikum reagiert berührt und mit großem Beifall auf das Projekt, das eine fassliche und gedanklich eindringliche Form des Musiktheaters präsentiert. Die Nachwehen der experimentierfreudigen 1970-er Jahre sind stets zu spüren, wenn Stäbler am Werk ist. Und die kreative Frische des mittlerweile 66-jährigen Komponisten wirkt so vital wie eh und je. Das Stück sollte noch auf der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang nicht wiederholt, sondern unter den anderen örtlichen und ebenfalls geschichtsträchtigen Gegebenheiten neu kreiert werden. Dazu kommt es aufgrund eines Krankheitsfalls vorerst nicht.
Pedro Obiera