Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Alle Fotos © Florian Krauß

Aktuelle Aufführungen

Dekonstruktion der Erinnerung

UNLIKELY CREATURES
(Verena Billinger, Sebastian Schulz)

Besuch am
27. Januar 2016
(Premiere)

 

Forum Freies Theater Düsseldorf,
Jahnstraße

Mensch, da ist ja gar keiner nackt“, ruft eine junge Besucherin spontan enttäuscht aus, als sie den Saal des Forums Freies Theater an der Jahnstraße betritt. Stimmt. Die Akteure des Abends stehen bereits – durchaus züchtig bekleidet – rechts und links der Bühne, vor ihnen zahlreiche Bekleidungsstücke in jeweils einer Reihe ausgelegt. Das verspricht zweierlei: Es wird ein langer Abend, und die Künstler werden eine Menge Stoff tragen, den Caroline Creutzburg zusammengetragen hat. Links hinter den Tänzern ist in einer Nische eine Art digitale Diskothek aufgebaut. Die Hinterbühne ist geöffnet, an deren Ende eine Projektionsfläche aufgehängt. An der Rampe stehen links und rechts Farbtöpfe. Marlin de Haan zeigt eine durchaus aufgeräumte Bühne, die Maika Knoblich in das grelle Licht eines Sezierraums taucht. Nur spärlich werden Lichtwechsel eingesetzt, dramaturgisch gekonnt, und meist wird das Licht auch einfach nur kurz ausgeblendet.

Einen „Sezierraum“ benötigt das Düsseldorfer Choreografengespann Verena Billinger und Sebastian Schulz sehr wohl für sein Vorhaben. Es geht um nichts anderes, als die Geschichte der Choreografie zu dekonstruieren und in zahlreichen Zitaten in neuen Erscheinungsformen wieder zusammenzusetzen. Dass es dazu einen bombastischen theoretischen Überbau gibt, ist, wie die Aufführung zeigen wird, überflüssig und irritierend. Vom gekünstelten Ballett des Barocks bis in die meditativen Erscheinungsformen zeitgenössischen Tanzes zeigen Billinger und Schulz auch die Einbahnstraßen – oder noch nicht schlussendlich erforschten Wege? – der Tanzmoden.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Neben dem Pfau im klassischen Ballett gibt es die Tanzformationen der Disco-Bewegung in den 1980-er Jahren, Experimente mit Nackttanz, die die Tänzerinnen und Tänzer nackt auf die Bühne schicken, ohne sie zu entblößen, und den Umgang mit Farben, der letztlich exzessiv betrieben wird. Das ist im ersten Teil durchaus langatmig, gewinnt aber hinten raus an Geschwindigkeit und unglaublicher Intensität.

Jungyun Bae und Judith Wilhelm - Foto © Florian Krauß

Jungyun Bae, Judith Wilhelm, Frank Könen, Ludvig Baae und Nicolas Niot sind die Tänzer, die als Basis ihre „Kleiderlinie“ wählen, von dort aus zu neuen Abenteuern aufbrechen, um sich dort auch zurück- und umzuziehen. Die Mimik wird aus der „Handlung“ ausgeklammert, ansonsten scheuen die Künstler vor nahezu keinem Tabu zurück. Der nackte Körper wird so oft zur Schau gestellt, bis die Kunst über die Erotik siegt, ehe alles in einem Farbrausch untergeht. Zurück bleibt, die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes im Zeitraffer und in immer wieder einfallsreichen Kombinationen ohne eine Wertung erlebt zu haben.

Anton Kaun steuert „moderne“ Musik dazu bei, singt, wie die Tänzer, auch unverständliche Texte live dazu. Nicht immer scheint der Einsatz der Musik klar motiviert, oft würde man sich auch mehr vom wummernden Beat wünschen. Aber in dieser künstlerischen Entscheidung liegt eben die Spannung.

Das Publikum verharrt nur kurz in Schweigen, ehe ein für das Forum ungewöhnlich langanhaltender Applaus beginnt. Und wieder einmal bleibt die „Freie Szene“ mit einem überaus herausragenden Tanzerlebnis unter sich. Während Bettina Masuch, Intendantin des Tanzhauses NRW, sich durchaus auch für die künstlerischen Ereignisse in der Stadt interessiert und „selbstverständlich“ anwesend ist, hat Martin Schläpfer, Ballettdirektor an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, offenbar für die tänzerischen Entwicklungen des Nachwuchses an seinem Wirkungsort kein Interesse. Das ist auch eine Aussage.

Michael S. Zerban