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Kulturmagazin mit Charakter

Foto (ähnlich der Aufführung) © Pedro Farina

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SUAVE
(Alice Ripoli)

Besuch am
14. Juni 2016
(Premiere am 13. Juni 2016)

 

 

Ein Anspruch des Festivals Projeto Brasil ist, fernab von Folklore und Klischee neue Entwicklungen im brasilianischen zeitgenössischen Tanz zu zeigen. Mit der Choreografie Suave von Alice Ripoli gelingt das gleich im doppelten Sinne. Denn die junge Schauspielerin, Tänzerin und Choreografin beschäftigt sich mit einem Phänomen, das seit einigen Jahren nicht nur die Metropolen Brasiliens beherrscht. Der Passinho ist längst keine Modeerscheinung mehr und hat das Zeug, die Samba abzulösen. Denn der „kleine Schritt“ lässt alle Grenzen und Regeln hinter sich.

„Glückwunsch an alle, die das Tanzen anstelle von Drogen nutzen“, bringt Cebolinha, einer der „Gründer“ des Passinho, die Begeisterung für einen Tanz auf den Punkt, der seinen Erfolg wohl vor allem einem Videokanal im Internet verdankt. Im September 2008 erschien das erste Tanzvideo von einer Grillparty in der Favela Jacaré in Rio de Janeiro. Seither ist die Mischung aus Samba, Capoeira, Frevo, Free Step, Hip-Hop und Ballett auf dem Siegeszug und beginnt gar, die Wahrnehmung der Jugendlichen in den Favelas zu verändern. Galten sie früher der Mittelschicht eher als kriminelle, drogenverseuchte Bedrohung, wird heute zwischen Tänzern und Kriminellen entschieden. „Passinho bringt Frieden in die Stadt“, sagt DJ Vinimax. „Als nächstes braucht es Fördergelder für die Kinder, damit sie ihre Ausbildung abschließen, zur Universität gehen, und Arzt, Tierarzt oder Anwalt werden können.“

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

DJ Vinimax ist einer der wichtigsten Vertreter der musikalischen Untermalung für den Passinho und steuert auch die Mischung für Ripolis Suave bei. Für ihre Choreografie hat sie zehn der bedeutendsten Tänzerinnen und Tänzer der Passinho-Szene aus Rio um sich versammelt, um in einem battle, also einer Tanzveranstaltung, die ganze Vielfalt dieses Tanzes in 50 Minuten auf die Bühne zu bringen. Denn Passinho lässt nicht nur die Regeln herkömmlicher Tanzschritte hinter sich, sondern spielt auch mit der Aufhebung von Geschlechterrollen – ein wichtiges Thema nicht nur in Brasilien.

Foto (ähnlich der Aufführung) © Coletivo CLAP

Auf der leeren Bühne zeigen die Tänzer, anfangs schleppend, was Passinho alles zu bieten hat. Das ist nicht immer ganz so aufregend, wie man es sich vorstellen mag. Pubertäres Gerangel unter Jungs sorgt mitunter für allzu bereitwilliges Gelächter im Publikum.  Einzelszenen verdichten sich nicht zu einem Handlungsstrang oder auch nur zu einer Einheit. Es ist halt ein battle. Das ist alles ein wenig mühsam. Andrea Capella schafft da auch mit sparsamen Weißlicht-Wechseln oder zaghaftem Einsatz von Stroboskop-Licht wenig Reiz. Und die Kostüme von Paula Stroher sind schnell erkannt: Die streetgang-Mitglieder in Muscle-Shirts und mit Bilker Ballonseide an den Beinen, der Travestie-Künstler und zum Ende gibt es Tiermasken, deren Bedeutung sich allerdings nicht so recht erschließt. Ist halt bunt und lustig.

Richtig stark wird es, wenn die Musik Fahrt aufnimmt. Interessant, dass der Passinho keine eigene Musikrichtung entwickelt hat wie etwa die Rumba, der Cha Cha oder die Samba. Da tauchen altbekannte Disco-Hits genauso auf wie verzerrte Samba-Klänge oder einfach nur Geräuschkulissen. In den lauten Passagen treffen sich Tänzerinnen und Tänzer zu gemeinsamen Schrittfolgen und zeigen, warum der Passinho bereits als Nachfolger der Capoeira gepriesen wurde. Die Capoeira war der Tanz der Sklaven, denen Kampfübungen verboten waren und die so ihre Kondition aufrechterhielten. Lange Jahre als Exportschlager Brasiliens erfolgreich, ist der „Kampftanz“ längst in die folkloristische Ecke gerutscht. Die Jugend Brasiliens persifliert respektlos die Kunstform und macht sich einen Spaß daraus.

Vor dem Finale haben die Besucher noch ein ausgesprochen überflüssiges und nichtssagendes Solo auszuhalten. Dann verteilen sich die Tänzerinnen und Tänzer in das Publikum, um schließlich einzelne Besucher auf die Bühne zu holen und mit ihnen gemeinsam zu tanzen. Die Begeisterung überträgt sich augenblicklich auf die Laien, die schnell die Schrittfolgen nachahmen.

Nach einem begeisterten Applaus wird das Publikum erneut auf die Bühne eingeladen, um noch einmal mitzutanzen. Das „offene Ende“ nutzen vor allem die älteren Besucher, um den Saal rasch zu verlassen. Wie auch immer man zur Choreografie stehen mag, der Anspruch des Festivals ist voll und ganz erfüllt – und damit Kompliment für die Ausrichter des Festivals.

Michael S. Zerban