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STADT DER BLINDEN
(Maura Morales)
Besuch am
19. Februar 2016
(Premiere)
Die Hölle, das sind die anderen“, formulierte Jean-Paul Sartre bereits in seinem 1944 uraufgeführten Einakter Geschlossene Gesellschaft. Er bezog sich damit auf die philosophische Frage nach der Freiheit und befand, dass die Freiheit des einen da endet, wo die Freiheit des anderen beginnt. Er unterstellte, dass eine Gesellschaft nur funktionieren könne, wenn jeder einzelne die Verantwortung für seine persönliche Freiheit und folgerichtig somit auch die Verantwortung für die anderen übernimmt. Was aber passiert eigentlich, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, verantwortlich zu handeln? Diese Frage warf José Saramango 1995 in seiner Novelle Die Stadt der Blinden auf. Er lässt die Menschen als Folge einer Epidemie erblinden – es bleibt nur weißes Licht im Kopf. Eine ratlose Regierung interniert die Hilflosen in einer verlassenen Psychiatrie, um das Volk vor Ansteckung zu schützen.
Der Fortgang der brandaktuellen Metapher ist für die Choreografin Maura Morales unerheblich. In ihrem neuesten Stück interessiert sie sich, wie schon Sartre, für die modellhafte Isolation. Sie allerdings nimmt den Menschen ihres Werkes nicht nur die Sicht, sondern auch die Sprache und reduziert sie auf ihre Körperlichkeit. Für die zwei Frauen und drei Männer auf der Bühne bleibt also nicht mehr viel außer Schweiß, ihre Bewegung und Angst. Existenzielle Angst.
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Am 23. Oktober vergangenen Jahres im Ringlokschuppen im Mülheim an der Ruhr uraufgeführt, finden jetzt zwei Aufführungen auf der Studiobühne des Forums Freies Theater in Düsseldorf statt. Der Boden ist weiß ausgelegt, im Hintergrund sind ein paar Gaze-Rahmen aufgehängt, auf die hin und wieder kryptische Videobilder projiziert werden. Klinische Kälte, vom schwarzen Raum der Ungewissheit umgeben. Links vorne hat Komponist Michio seinen Arbeitsplatz aufgebaut: Mit einem Sammelsurium von Computern, Mikrofonen und Klangkörpern erzeugt er einen Klangteppich aus wummernden, streckenweise an den menschlichen Herzschlag erinnernden, mitunter beängstigend ohrenbetäubenden Beats. Nicht ganz so gekonnt setzt Eva G. Alonso das Licht ein. Eine Mixtur aus Weißtönen, die sie in verschiedenen Ausbreitungen platziert, ohne dabei die Wirkung der von hinten nach vorn leuchtenden grellweißen Scheinwerfer auf das Publikum zu berücksichtigen. So bekommt man auch als Zuschauer schon mal nichts außer dem weißen Licht im Kopf zu sehen.
Kaum ist die Eingangstür geschlossen, das Saallicht ist noch an, öffnet sich die Türe wieder und Geraldine Rosteius betritt den Raum in Unterwäsche, einem Unterhemd und langer Hose. Blind stellt sie sich vor das Publikum. Nach und nach betreten auch Elia Lopez, Claudio Rojas, Robert Gomez und Ayberk Esen durch die verschiedenen Zugänge, die das Studio bietet, die Bühne. Alle blind, alle tief verunsichert. Es beginnt ein scheinbar blindes Taumeln durch die Maslowsche Bedürfnispyramide. Die Suche nach Sättigung, Wärme, Verrichtung der Notdurft, räumlicher Orientierung, Sex und Ordnung paart sich mit dem verzweifelten Bemühen, einen Ausweg aus der persönlichen Krise zu finden. Das Wesen Mensch ist plötzlich bar jeder Vernunft, die Angst führt in konvulsivische Zuckungen, Übersprungshandlungen oder Annäherungsversuche, die blitzschnell abgebrochen, um sogleich wieder aufgenommen zu werden. Morales gönnt ihren Tänzern kaum ruhige Phasen, lässt sie gegeneinander, gegen Wände prallen, übereinander herfallen, nie sehend, wohin sie ihr nächster Weg führt. Die existenzielle Bedrohung wird so deutlich wie das Fehlen jeder Solidarität. Jeder nimmt sich auch unter Einsatz von Gewalt, was er kriegen kann, sei es Raum, Nähe oder Irresein. Ekstatische, kurzwährende Verbindungen mit beinahe artistischen Einlagen führen zu umso kräftigerer Abstoßung.
Rund eine Stunde bäumen sich die Psychiatrie-Insassen gegen eine Welt der Orientierungslosigkeit auf, kämpfen gegen eine Wirklichkeit, die sie nie wollten. So furchtbar Morales die Menschen auf der Bühne entblößt, so intensiv sie die Folgen einer Gesellschaft ohne Regeln und Werte offenlegt, so beinahe versöhnlich ist das Ende. Nicht die Auflösung und damit das Verderben, sondern die unendliche Ruhe in der Solidarität steht am Ende dieser Baalschen (Über-)Lebensversuche. Versteht sich fast von selbst, dass nicht alle in das Urvertrauen zurückfinden. Einer bleibt draußen, trotz aller Versuche, in die Gemeinschaft zurückzukehren. Bist möglicherweise du es, lautet die beunruhigende Frage an den Zuschauer.
Der hat eine schier atemlose, erschöpfende Stunde erlebt, in der er nicht nur den Geschehnissen auf der Bühne folgen musste, sondern auch mit dem eigenen Kopfkino zu kämpfen hatte. Selten hat man so wenig und ermatteten Applaus als so wertvoll erlebt wie an diesem Abend im vollbesetzten Haus.
Michael S. Zerban