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SCHWARMBEBEN
(Frank Schablewski)
Besuch am
17. Juli 2016
(Uraufführung)
Treffpunkt für das Publikum ist der Biergarten. Es wird durch das Haus geleitet, um auf der Frontseite über eine andere Außentür über eine ausgetretene Stiege in einen Raum geleitet zu werden, in dem eine inszenierte Lesung stattfinden soll. Schon die Vorstellung, dass eine Lesung inszeniert wird, ist ungewöhnlich. Üblicherweise kommt zu Lesungen ein Publikum, das sich hochkonzentriert auf den Lesestoff einlassen will und schon unruhig wird, wenn der Autor einen Beamer zum Einsatz kommen lässt. Jetzt also gleich eine Inszenierung, die der Schriftsteller auch noch selbst vornimmt.
Die Gäste werden in einen Raum geführt, in dem der Putz von der Decke gefallen ist. Der Durchgang zum nächsten Raum ist mit „heruntergefallenen“ Brettern versperrt. An der Decke geschwärzte Stellen, von denen man nicht weiß, ob sie von einem Brand oder Schimmel herrühren. Alte Farbanstriche bröckeln von den Wänden, über die in wilder Anordnung Elektro-Leitungen laufen. Die Fenster sind verklebt. An den Wänden entlang sind Klappbänke aufgestellt, in der Mitte des abgewrackten Raums stehen und liegen Stühle jeglicher Konvenienz, Hauptsache, alt und klapprig. Beim Versuch, einen der herumliegenden Stühle aufzustellen, weil es reichlich beengt zugeht, rät das Orga-Personal ab. Hier handele es sich um Deko.
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Dazu passt, dass Frank Schablewski, der Schriftsteller, mit der Tür ins Haus fällt. „Sie haben vermutlich alle nicht den Ankündigungstext im Programmheft gelesen“, behauptet er im Brustton der Überzeugung, um nach aufkommender Irritation schnell hinzuzufügen „Und das ist ja auch gut so“. Nachdem jeder einen ungemütlichen Sitzplatz gefunden hat, wobei Schablewski sich freut, dass alle noch den Frontalunterricht verinnerlicht haben, der hier aber nicht weiterhelfe, weil der Vortrag sich über den ganzen Raum erstrecke. Konsequenzen für die Sitzordnung bleiben aus, weil es keine Konsequenzen geben kann. Der Kunst- und Tanzwissenschaftler, der sich einen Namen als Lyriker gemacht hat, hält sich nicht lange mit Präliminarien wie Begrüßungsformeln auf. Frontal steht er schwarzgekleidet vor seinem Publikum und beginnt, Passagen aus seiner Novelle Schwarmbeben vorzutragen, die demnächst veröffentlicht wird. Darin geht es um drei unterschiedliche Liebeskonstellationen, die im Kontext eines Erdbebens ihre teils dramatische Entwicklung nehmen. Währenddessen erhellt das leere Projektionsfeld eines Beamers die rechte hintere Zimmerecke.
Ist es die Nervosität der Uraufführung oder mangelnde Zeit für die Vorbereitung? Der Vortrag des eigenen Textes lässt immer wieder zu wünschen übrig. Die monotone Lesung, falsche Betonungen und Versprecher sorgen dafür, dass man sich auf den Inhalt des Textes nur schwer konzentrieren kann. Sprachfehler – zugegeben, der Gebrauch des Konjunktivs gehört zur höheren Kunst des Schreibens – erschweren zusätzlich das Hörvergnügen. Vielleicht hat sich Schablewski aber auch ein wenig zu viel vorgenommen. Denn neben dem Lesevorgang muss er auch noch den Ablauf seiner Inszenierung im Blick behalten, so marginal der auch ist. Sein Manuskript, ein dicker Haufen Papier, der einem Angst vor der Länge des Abends macht, entpuppt sich als Gegenstand der Inszenierung. Absatzwechsel bedeuten auch Ortswechsel. Auf dem Gang zur neuen Position werden die Blätter fallengelassen, viele Blätter, denn längst nicht alle sind bedruckt. Das Chaos des Erdbebens greift auch auf die Papiere über. Und leider weiß der Vortragende selbst offenbar nicht, wie viele weiße Blätter zwischen den bedruckten liegen.
Was bis dahin alles hingenommen und verziehen wird – manche Hörer schließen die Augen, um sich besser konzentrieren zu können und der Umgebung zu entziehen – findet sein Ende bei der nächsten Inszenierungsidee. Mit der Schilderung des Erdbebens schleicht sich ein dumpf dröhnender, in der Lautstärke schwankender, unbestimmter Ton ein. Damit entsteht zunächst keine atmosphärische Verdichtung, sondern neuerliche Irritation. Wenn der Mensch eine Geräuschquelle nicht verorten oder das Geräusch nicht einordnen kann, wird er das nicht als Bereicherung empfinden, sondern herauszufinden versuchen, woher das Geräusch kommt. Dieses Dröhnen wird nicht mit der Bedrohlichkeit eines Erdbebens assoziiert, sondern vom Publikum als ausgesprochener Störfaktor bei der Lesung empfunden. Ein älteres Ehepaar möchte sich das nicht länger zumuten lassen und verlässt die Veranstaltung vorzeitig.
Schablewski redet mittlerweile ziemlich viel über die Spalten der Frauen. Ob das alles noch so zeitgemäß ist, müssen andere entscheiden. Im Kontext mit einem Erdbeben, bei dessen Schilderung sich der Autor um drastische, eindringliche Schilderungen bemüht, um schließlich Verbindungen zu sexuellen Beben finden zu wollen, wollen sich erotische Empfindungen nicht so recht einstellen. Auch muss die Frage erlaubt sein, ob die Konnotation einer existenziellen Bedrohung mit einem überhöht empfundenen Lebensgefühl legitim ist.
Diese Entscheidung bleibt dem Autor überlassen, denn, verdammt, jetzt ist doch noch ein Bild auf der bis dahin leeren Projektionsfläche aufgetaucht. Ein Trümmerfeld bleibt als Bild stehen. Aber was hat der Hörer bis dahin verpasst? Der Schriftsteller verrät es nach dem Vortrag: Gar nichts. Gezeigt wurde der zweistündige Einsturz eines Hauses im extremen Zeitraffer. Hätte es den doch auch an diesem Abend gegeben.
Zum Schluss vermasselt Schablewski dann auch noch den letzten guten Willen. Mit zwei Nachsätzen zwingt er das Publikum zu dreimaligem, höflichem Applaus. Gesprächsbedarf gibt es zu diesem Abend nicht mehr. Ist damit die Idee einer inszenierten Lesung ad absurdum geführt? Wohl kaum. Wenn sie sich an den Bedürfnissen des Publikums orientiert, eröffnet sich da ein weites Feld.
Michael S. Zerban