Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Barfuß zu den Wurzeln

Die Sklaverei ist abgeschafft. Denkt man. Paulo Nazareth denkt weiter. Der brasilianische Künstler sieht einen Neokolonialismus, der ihn von einem Besuch Europas abhält. Im Rahmen des Projeto Brasil kann der Künstler bundesweit sein politisches Manifest verkünden. Ist die Zeit dafür gekommen?
Cis Bierinckx - Foto © Opernnetz

Im Moment läuft er barfuß durch die afrikanische Wüste. Bei seinen Wanderungen trifft er Menschen, setzt sich neben sie und hört ihnen zu, ohne etwas zu sagen. Sein Leben ist Kunst. Sieht er jedenfalls so. Paulo Nazareth zählt zu den bedeutendsten brasilianischen Künstlern der Gegenwart, sagt Cis Bierinckx, der Kurator, der für das Projeto Brasil eine eindrucksvolle Ausstellung besorgt hat. Beeindruckend nicht etwa deshalb, weil Menschen stundenlang wie vor dem Museum of Modern Arts in New York anstehen – das wäre nach seiner Vorstellung vermutlich auch fatal – sondern weil seine Kunstwerke derzeit in Berlin, Dresden, Frankfurt und Düsseldorf zeitgleich ausgestellt werden. Sofern das überhaupt geht. „Denn eigentlich ist Nazareth ein performativer Künstler“, erzählt Bierinckx. Die Werke, die er ausstellt, sind eher die Dokumentation seiner Kunst. 

Das Tanzhaus NRW rundet sein Festival Projeto Brasil neben den Tanzaufführungen mit Vorträgen und eben der Ausstellung von Mining Histories ab. Das Ungewöhnliche: Die Ausstellung findet nicht im Tanzhaus selbst statt, sondern findet ihren eigenen Raum weit entfernt vom Tanzhaus. „Kunst braucht eigene Räume“, sagt Bierinckx, der selber sechs Jahre lang ein Theater in Brüssel geleitet und dabei individuelle Kunsträume entwickelt hat. The Art Space heißt die kleine, aus zwei Räumen bestehende Galerie am Fürstenplatz, in der die Werke von Nazareth gezeigt werden. Mal eben so nebenbei kann man die Ausstellung also nicht rezipieren – und das ist auch so gewünscht.

Aber sie passt gut in die Galerie von Alexandra Waierstall, der Choreografin, die derzeit als Residenzkünstlerin am Tanzhaus NRW arbeitet. Ein Kunstraum für bewegte Ideen sollen die zwei geweißten, karg eingerichteten Räume hinter den großflächigen Fensterfronten sein. Als Waierstall die leerstehenden Räumlichkeiten entdeckte, entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Vater, dem bildenden Künstler Horst Weierstall, das Konzept für den Kunstraum, der 2010 eröffnet wurde. Weierstall, der auch schon mal als Kostüm- und Bühnenbildner bei den Choreografien seiner Tochter mitwirkt, konnte bereits auf Galerie-Erfahrung zurückblicken, hatte er doch 1980 bereits seinen eigenen Art Space in Nikosia eröffnet. Als Kunstpädagoge unterrichtete er damals an der zyprischen Universität. Inzwischen pensioniert, gefiel dem gebürtigen Wuppertaler die Idee, „mal wieder Richtung Heimat zu schwenken“.

Politische Kunst

Mining Histories nennt Paulo Nazareth seine städteübergreifende, um Schlichtheit bemühte Ausstellung, die sich so wunderbar in die minimalistischen Räume am Fürstenplatz einfügt. Das Schürfen der Geschichten erfolgt in der Begegnung mit Menschen wie in eigenen Aktionen. In den verschiedenen Städten werden jeweils unterschiedliche Projekte gezeigt, die sich aber alle unter einem Dach wiederfinden. „Die Idee dahinter ist, dass er eigentlich die Wurzeln seines eigenen Seins sucht. Er ist auch ein Kind von einem Sklaven“, fasst Bierinckx zusammen. Dass in Europa allenfalls ein historisches Bewusstsein der Sklaverei existiert, ärgert Nazareth, sind doch die Folgen in Nord- und Südamerika oder Afrika bis heute virulent. Und aus seiner Sicht schlimmer noch: Der Kolonialismus feiert fröhliche Urstände.

Horst Weierstall - Foto © Opernnetz

Deshalb ist Nazareth auf der Reise. Begegnet Menschen, die ihm ihre Geschichten oder die ihrer Ahnen erzählen. Er lässt sich mit ihnen fotografieren. Gemeinsam halten sie auch schon mal Zettel mit politischen Botschaften vor die Kamera wie „Nous sommes“ – Wir sind. Gemeint sind die Minderheiten, die Entrechteten. Dazwischen mischen sich Fotografien mit Graffitis. Alles in Schwarzweiß, einfach, pur. Die Anordnung der Fotos ist unwichtig, darf von jedem selbst bestimmt werden. Der Gesamteindruck der Collage wird immer gleichbleiben: Was uns ausmacht, sind nicht Macht, Posten und Reichtum, sondern unser Menschsein, in dem wir von niemandem unterdrückt werden dürfen.

Welch schreckliche Folgen die Unterdrückung hat, führt der junge Brasilianer mit einer Ansammlung von Blättern, die an die Wand geheftet sind, vor: Da hat er mit einem einfachen Holzkohlestift die Namen brasilianischer Indianerstämme aufgeschrieben – die alle ausgerottet sind.

Aber es gibt auch die anderen. Die Nachfahren der Sklaven, die ihrer Wurzeln entzogen sind, keine wirkliche Heimat mehr haben. Ihnen baut Nazareth in einer Videoinstallation eine Brücke zwischen Brasilien und Afrika, indem er symbolisch Steine ins Meer legt. So eine Brücke ist ein Stück weit sicherer als die Boote, mit denen derzeit ungezählte Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen, weil ihr Leben dort in Gefahr ist. Der Künstler, der sein Atelier in São Paulo hat, will nicht belehren, sondern Bewusstsein schaffen.

Ein Bewusstsein auch für neue Formen des Kolonialismus, die der Neoliberalismus mit sich bringt. Was ist das für eine Olympiade, die dafür sorgt, dass in einem Land Sportstätten hochgezogen werden, ohne sich auch nur einen Deut um die sozialen Probleme des Landes zu kümmern? Die sich weder um eine gespaltene Gesellschaft noch um Favelas schert? Was für europäische Ohren abstrus klingen mag, weil es doch um die Jugend der Welt geht, ist nicht nur in Brasilien bittere Wirklichkeit.

Zwischen Anspruch und Wahrhaftigkeit

Nazareth bietet keine Antworten, er stellt Fragen – und schreckt dabei auch vor kuriosen Aktionen nicht zurück. Etwa, wenn er seinen entblößten Oberkörper mit Schädeln „seiner Vorfahren“ bedeckt, um mit ihrem Geist in Verbindung zu treten wie in der zweiten Videoinstallation. Und er fordert den Dialog. Anlässlich einer Biennale in Venedig, berichtet Bierinckx, hat Nazareth ein brasilianisches Paar auf die Bühne gesetzt, das dem Publikum in seiner Sprache etwas erzählt hat. Das Publikum hatte keine Chance, etwas zu verstehen. Wie man darüber in einen Dialog kommt, lässt der Künstler offen. Also müssen wir uns schon selbst Gedanken darüber machen, wie ein solcher Dialog zustande kommt.

Bei aller Aufforderung zum Dialog erscheint es seltsam, dass Paulo Nazareth den Dialog mit dem Westen verweigert. Diesen Bruch vermag auch der Kurator nicht aufzulösen. Dass ein Künstler sein Dialogangebot damit beendet sieht, dass er seine Kunst anbietet, ist beileibe kein neues Phänomen, aber so wird es keineswegs richtiger, sondern folgt einem uralten Ritual. Und gerade das will Nazareth doch aufbrechen.

Immerhin erfrischend ist die politische Ausrichtung der Kunst, mit der Nazareth sich in die Reihe aktueller brasilianischer Kunst einordnet. Während Kunst in Europa sich überwiegend mit sich selbst beschäftigt und allmählich den langsamen Tod der Förderungsmentalität stirbt, brodelt es in Brasilien mächtig. Und egal, ob wir das in Europa verstehen wollen oder nicht, es gibt auf der anderen Seite des Globus ein Gegengewicht, über das wir in einer zusammenwachsenden Welt nicht mehr lange werden hinwegsehen können.

Paulo Nazareth gibt einen ersten Vorgeschmack davon. Der ist bitter, aber nicht unkorrigierbar. Aufwachen im Westen, heißt die Devise für eine globalisierte Welt im positiven Sinne.

Die Ausstellung läuft bei eingeschränkten Öffnungszeiten noch bis zum 25. Juni. Für das Tanzhaus NRW bleiben noch wenige Vorstellungen, dann ist das erste Projeto Brasil beendet. Bettina Masuch und ihre Kollegen haben, von ein paar kleineren Ausrutschern abgesehen, wie es sich für ein erstes Mal gehört, ein eindrucksvolles Festival präsentiert, das einen tiefen Einblick in den künstlerischen Alltag Brasiliens und seine vielfältigen Facetten ermöglicht hat. Zum Schluss bleibt ein Kompliment: Besser hätte man ein solches Festival zum ersten Mal nicht präsentieren können.

Michael S. Zerban