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DER JUNGE MIT DEM KOFFER
(Mike Kenny)
Besuch am
12. März 2016
(Premiere)
Das Spiel beginnt vor der Premiere. Um Punkt 18 Uhr heißt es: 15-minütige Verspätung. Dann werden die Besucher – viele Erwachsene, vergleichsweise wenig Kinder, darunter aber auffällig viele mit anderen Muttersprachen – in Gruppen über den Bühneneingang eingelassen. Ordner geben in ruppigem Ton Anweisungen, weisen Plätze zu, lassen einzelne Personen auch schon mal für wenige Momente hilflos verloren mitten im Raum stehen. Wer sich nicht mit Rückenschmerzen meldet, nimmt auf Koffern oder Taschen Platz. Der Bühnenraum ist mit übermannshohen Absperrgittern umzäunt. Da kommt keiner so schnell raus. In die Mitte des Raums hat Bühnenbildner Guus van Geffen eine doppelstöckige Etagere gestellt, auf der und um die herum sich die Fluchtereignisse vollziehen. Auch wenn zumindest die Erwachsenen wissen, dass sie Teil eines Spiels geworden sind, stellt sich vielerorts Unbehagen ein. Ein Zuschauer, der das für viele Besucher inzwischen obligate Smartphone-Foto von der Bühne machen will, wird vom Ordner scharf zurechtgewiesen, sein Smartphone abzuschalten.
Regisseurin Liesbeth Coltof nimmt die Sache verdammt ernst. Und hat mit Mike Kennys Stück Der Junge mit dem Koffer dafür auch eine halbwegs gute Grundlage gefunden. Kenny lässt die Handlung in einem Dorf „auf der anderen Seite der Welt“ beginnen, das bombardiert wird. Naz und seine Eltern müssen fliehen. Aber für die Eltern endet die Flucht bereits im nächsten Auffanglager, denn das Geld reicht lediglich für eine Person, um nach England zu Naz‘ Bruder zu kommen. Sie beschließen, dass auch der jüngere Bruder die Chance bekommen soll. Und so beginnt die Reise von Naz, analog zu den Abenteuern Sindbads, des Seefahrers. Vor allem aber auch analog zu dem, was Millionen von Flüchtlingen und insbesondere den Jugendlichen unter ihnen derzeit auf der ganzen Welt widerfährt. Die Stärke des Stücks liegt sicher in der Botschaft, wie wichtig und hilfreich das Erzählen von Geschichten ist – etwas, das uns in einer Zeit der Aufgeregtheit und Hochgeschwindigkeit helfen kann, uns wieder auf uns selbst zu besinnen. Ganz schwach allerdings ist das Verharren in kapitalistischen Denkstrukturen. Die Tatsache, dass Schleuser oder Schlepper viel Geld verdienen, ist ebenso wenig das große Problem für Flüchtlinge wie die Frage nach der Zukunft am neuen Aufenthaltsort. Und dass Kenny die Flüchtlinge als Autowäscher mit geplatzten Träumen enden lässt, lenkt davon ab, dass sie nicht als bombenzerfetzte Leichenteile aus einem Gebäude geborgen wurden, sondern leben.
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Coltof macht das Beste daraus. Fantasievoll setzt sie die einzelnen Stationen in Musiktheater um, das unter die Haut geht. Wie beispielsweise in der Eingangsszene, wenn die ersten Bomben auf das Dorf fallen. Manfred Belk sorgt mit flackerndem Licht dafür, dass die Geräuschkulisse vom Band mit großer Wirkung beim Publikum ankommt. Große Authentizität entsteht auch durch die Kostüme von Esmée Thomassen, die auf zwei Ebenen arbeiten. Auf der einen Seite werden die Klischees der Funktionsrollen von Schleusern, Polizisten, Hehlern und anderen Nutznießern überzeichnet, auf der anderen Seite haben die Flüchtlinge nicht mehr als zerrissene Jeans, ein T-Shirt, Turnschuhe oder auch mal eine dünne Jacke oder einen Mantel am Leib. Letzteres, wenn’s gut läuft.
Bernhard Schmidt-Hackenberg glänzt in der Rolle von Naz. Überzeugend verkörpert er das viel zu schnelle Erwachsenwerden eines Jungen auf der Flucht, trotz der Rasanz kommt er fast ohne Versprecher aus. Auch in diesem Stück beeindruckt die Natürlichkeit, mit der er die Charaktere verkörpert. Mit Julia Goldberg als Fluchtbegleiterin Krysia steht Schmidt-Hackenberg eine ebenbürtige Partnerin zur Seite. „Selbstverständlich“ erfüllen die übrigen Mitstreiter vier bis sieben Rollen – und das machen sie richtig gut. Ob Alexander Steindorf, der zeigt, dass er nicht nur Steindorf spielen kann, Maëlle Giovanetti, die mit Bravour in die charakterlich unterschiedlichsten Rollen schlüpft oder Jonathan Schimmer, der vor allem als Bruder außerordentlich und abschließend überzeugt.
Wiebe Gotink ist für die Musik in diesem Stück zuständig. Neben eindrucksvollen Geräuschkulissen, die die einzelnen Fluchtstationen unterstreichen, schafft sie mit dem Einsatz von Gitarren-, Geigen- und Klavierpassagen eine stimmungsvolle Untermalung. Einer der Höhepunkte des Stücks sind die beiden Musical-Einlagen, die der Aufführung sehr gut anstehen, auch wenn es bei der Textverständlichkeit deutlich hapert. Im Zuge sich ändernder Rezeptionsgewohnheiten ist das Junge Schauspielhaus hier insgesamt auf einem sehr guten Weg.
Das findet auch das Publikum, das trotz aller selbst erlebter Irritationen am Ende vollkommen begeistert ist. Vom Füßetrampeln bis zum siebten „Vorhang“ ist alles dabei. Der Junge mit dem Koffer wird in die Annalen des Jungen Schauspielhauses eingehen. Vor allem, weil damit eine gute Richtung für die Zukunft vorgegeben ist.
Michael S. Zerban