Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
INVISIBLE WIRES
(Julio César Iglesias Ungo)
Besuch am
11. März 2016
(Uraufführung)
Es ist durchaus löblich, sich über seine Arbeit Gedanken zu machen und sie mit einem vernünftigen theoretischen Hintergrund zu hinterlegen. Aber das darf ja durchaus in einem verständlichen Rahmen bleiben. Wenn man liest, wie die Uraufführung zu Invisible Wires angekündigt wird – da ist von komplexen Beziehungsstrukturen, biografischen Erinnerungen und zerknitterten Fotos die Rede – fragt man sich, ob es das wirklich braucht, um das Publikum vor die Bühne zu locken. In diesem Fall ist es ärgerlich, weil viel Zeit verloren geht, in der das Publikum nach den „Unsichtbaren Drähten“ sucht, ehe es sich einfach auf das Geschehen auf der Bühne einlässt.
Es bleibt dahingestellt, ob es am Marketing oder am Choreografen Julio César Iglesias Ungo liegt, dass der schwülstige Überbau in den Raum gestellt wird. Mystisch bis ärgerlich gestaltet sich jedenfalls der Anfang der Aufführung. Da betritt ein Mann, der Musiker, wie später zu erleben ist, die Bühne, tritt ans Mikrofon und plappert in schwer verständlichem Englisch – was teilweise an der schlechten Mikrofonübertragung liegt – ziemlich sinnloses Zeug. Solche Geschichten hatten wir in den 1980-er Jahren als „Stilmittel“ und brauchen das eigentlich nicht mehr. Die Bühne ist in diesem Fall der bloßgelegte Bühnenraum. Auch die Seitenbühnen sind aufgehoben. Nichts als Beton, Stahl, Scheinwerfer und ein paar Requisiten für den Musiker, der im Hintergrund mit seiner Anlage aufgestellt ist. Eine Bühne, die auf sich selbst zurückgeworfen ist und nur die Tänzer im Blick hat. Großartig. Afonso Castro konzentriert sich beim Licht auf die Sichtbarkeit der Tänzer, ohne auf dramaturgische Akzente zu verzichten.
Musik | |
Tanz | |
Choreografie | |
Bühne | |
Publikum | |
Chat-Faktor |
Hat man den Quatsch mit den unsichtbaren Drähten mal aus dem Kopf, darf man sich einer kraftvollen, aktionistischen, geschmacklosen und atemberaubenden Tanzdarbietung anheimgeben.
Auf der Bühne ein genial überzeugendes Ensemble, das zunächst im Stroboskoplicht Effekte zaubert, ehe es sich selbst vollkommen verausgabt. Dann stirbt jemand. Und Tänzer Dymitry Szypura vergnügt sich mit der Leiche. Das ist überzeugend visualisiert, auch dank der Leistung von „Leiche“ Janis Heldmann; ob das allerdings noch innerhalb der Grenzen des guten Geschmacks ist, mag ein jeder für sich entscheiden. Der anschließende „Pas de Deux“ von Tanja Marin Friojónsdóttir und Jacob Ingram-Dodd ist nicht nur ein Feuerwerk an choreografischen Einfällen, sondern auch eine tänzerische Leistung, die ihresgleichen sucht. Das Publikum jedenfalls ist vollkommen in den Bann geschlagen. Kein Mucks ist auf der Tribüne zu hören. Wilde Leidenschaft äußert sich in nie gesehener körperlicher Auseinandersetzung, aus Überschlägen werden Hebungen, die in innigen Umarmungen enden. Alexis Fernández ist anschließend außer Rand und Band, während sich die übrigen Tänzer in immer neuen Konstellationen um ihn gruppieren.
Zu all dem gibt es den wuchtig donnernden Sound von Niko Hafkenscheid, der mit E-Gitarre und Rhythmusgerät dafür sorgt, dass niemand mehr über unsichtbare Kabel nachdenkt, sondern sich nur noch in den Sog von Musik und Tanz ziehen lässt.
Das Publikum applaudiert ungewöhnlich lang. Bravo-Rufe werden laut, Füße trampeln. Ungo und sein Team haben geschafft, was als unmöglich gilt: Sie haben das Publikum aus der sonst üblichen Lethargie befreit. Und noch im Hinausgehen spürt man Kraft, Gewalt und Innigkeit.
Michael S. Zerban