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DER GOLDENE HAHN
(Nikolai Rimski-Korsakow)
Besuch am
15. April 2016
(Premiere)
König Dodon alias Der Zar zieht bei Nacht in das Land seiner Feinde. Dort will er sie endgültig besiegen, nachdem seine Söhne Gwidon und Afron, degenerierte Trottel, nicht nur die Schlacht, sondern auch ihr Leben verloren haben. Mit der Morgenröte erlebt der Zar die Erscheinung der Königin von Schemacha, der er augenblicklich leidenschaftlich verfällt und sein Königreich anbietet.
Regisseur Dmitry Bertman verlegt in der Neuproduktion der letzten Oper von Nikolai Rimski-Korsakow an der Deutschen Oper am Rhein den Schauplatz dieser Begegnung im zweiten Akt aus einer fiktiven orientalischen Gegend nach Paris. Der Komponist, gegen Ende seines Lebens stark von der manière francaise, namentlich von Berlioz und Liszt, Ravel und Debussy beeinflusst, orientiert sich wie damals ein Großteil der russischen Intelligenz an der französischen Kultur. Er finde es sehr logisch, erläutert Bertman, Begründer der auch international renommierten Moskauer Helikon Oper, seine Idee, „dass die Schemacha und die Faszination, die von ihr ausgehen, etwas mit Paris zu tun haben“. Willkürliches Regietheater wieder einmal, dem Ego und den Medien mehr als dem Publikum verpflichtet? Im Gegenteil: Seine Inszenierung der Oper in drei Akten plus Prolog und Epilog auf ein Libretto von Wladimir Bjelski nach Alexander Puschkins gleichnamigem Märchen ist Regietheater vom Feinsten, inspiriert von einem profunden Gespür für den Stoff, die gesellschaftlichen Verhältnisse im revolutionär aufgeheizten Russland von 1905 und den Reiz einer politischen Satire.
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Äußerlich ein Scherz, der auf der Sage vom arabischen Astrologen aus der Erzählsammlung Die Alhambra von 1832 beruht, ist Der goldene Hahn schon bei Puschkin eine Abrechnung mit den Zaren Alexander I. und Nikolai I. Dodon ist des Kampfes müde. Ständig lebt er in der Furcht vor Feinden, ohne über eine wirksame Gegenstrategie zu verfügen. Da kommt der Astrologe gerade recht, der ihm einen goldenen Hahn zum Geschenk anbietet. Dessen Krähen, versichert der Sternengucker, werde ihn vor Gefahren warnen und so ihn schützen. Die Sache freilich geht anders aus. Dodon verliert alles und wird am Ende von dem goldenen Hahn getötet. Hahn, Astrologe und die Schöne von Schemacha suchen irgendwo in der Ferne ein neues Abenteuer. Wie es in Zukunft ohne Herrscher leben solle, fragt sich das in fatalistischer Bequemlichkeit verharrende Volk. Bei Bjelski und Rimski-Korsakow ist die Antwort, letztlich die Revolution, zumindest angedeutet, ohne sie freilich zu konkret werden zu lassen.
Nach dem „Blutsonntag“ vom Januar 1905, als auf dem Senatsplatz von St. Petersburg die Soldaten des Zaren auf friedliche Demonstranten schießen, kann es kein „Weiter so!“ geben. Bei Bertman wird aber auch diese Gewissheit spielerisch hinterfragt. Der Astrologe erzählt im Epilog, alles sei nur ein Spiel gewesen. Danach aber wird das Publikum mit der gelbgold ausgeleuchteten Erscheinung des Zaren konfrontiert, der unheimlich vital wirkt. Ein ironisches Spiel der Inszenierung mit der wahren Geschichte? Wenn es nicht einmal im Märchen möglich sein soll, den Herrscher los zu werden, wie kann dann noch die Restauration, die zur Wiedereinsetzung der Monarchie führt, in der Wirklichkeit überraschen? In der Zeit des nachrevolutionären Frankreichs wie der Russlands bis zum neuerlichen Aufstand der Bolschewisten? Eine deprimierende Perspektive, womöglich gar im Sinne des Komponisten. Erlebt dieser doch die Uraufführung seiner 15. und letzten Oper auf Grund der Intervention der zaristischen Zensur nicht mehr. Und das unzensierte Werk seine Weltpremiere erst 1914, allerdings in der Fassung einer Ballett-Oper, die Sergej Diagilew in Paris auf die Bühne bringt.
Es hätte nahegelegen, der kryptischen Botschaft wie der Rezeptionsgeschichte des Werks, die zugleich eine Geschichte der Freiheit und der Unterdrückung der Kunst repräsentiert, ein Upgrade bis in die Gegenwart zu gönnen. Den Faden weiter zu spinnen, bis hin zu Wladimir Putin, dem heutigen „Zaren“ im Bewusstsein der meisten Russen. Doch versagt sich Bertmans Inszenierung dieser Verführung, was dem im Repertoire hiesiger Musiktheater selten auftauchenden Stück durchaus bekommt, weil es somit Überfrachtung vermeidet.
So gibt sich der Regisseur mit ersichtlicher Wonne allerlei spielerischen Einfällen hin, für die das Märchen genügend Stichworte liefert. Schauplatz der Staatsgeschäfte ist dann schon mal eine schaumgekrönte übergroße Badewanne, in der sich der König mit seinen beiden Söhnen und den General Polkan berät, dabei mächtige Bierkrüge schwenkend. Bei der Rückkehr Dodons zusammen mit seiner königlichen Eroberung von Schemacha rollt das weinselige Volk überdimensionale Brotlaibe, Käse- und Fleischpakete vor sich her. Wird nun gar das Märchen vom Ende der Armut Russlands wahr? Bekanntlich nur eine rhetorische Frage. Der Konzentration auf den Kern des Märchens folgt auch Ene-Liis Semper in ihren Vorstellungen für Bühne und Kostüme. Ihre mobilen Arrangements auf der Bühne bieten Märchen-Theater im Theater. Die güldenen Kostüme, in die sie die orientalische Regentin und speziell die Darstellerin des Hahns hüllt, folgen kindlichen Projektionen in eine Welt jenseits von Leid und Entbehrung.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schafft Michael Glinka den Typus der russischen Nationaloper. 1905, also noch vor den Kompositionsarbeiten Rimski-Korsakows an seiner Oper, bringt Richard Strauss mit Salome das Schlüsselwerk des modernen Musiktheaters heraus. Diese Stile, russische Kolossal-Oper wie die subtile Technik des Konversationsstücks, finden sich in Der goldene Hahn wieder, angereichert und ergänzt zudem durch die flirrende Exotik, wie sie sich beispielsweise auch in Bizets Les pêcheurs de perles manifestiert hat.
Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung Axel Kobers finden alles in allem in dieses solitäre Alterswerk voller Engagement und mit großer Aufmerksamkeit für das Detail hinein. Märchenhaftes Opernspektakel für die Ohren entsteht gleichwohl nicht, wem auch immer dies nachzusagen wäre. Ohne Fehl und Tadel bewältigt der von Christoph Kurig einstudierte Chor im Übrigen seinen Part und überzeugt auch spielerisch in den Massenszenen.
Zwei der Protagonisten weisen Russisch als ihre Muttersprache auf, zwei weitere mit Tschechisch respektive Slowakisch eine slawische – ein Umstand, der der in Russisch gesungenen Produktion offenkundig hervorragend bekommt. Ein besonderes Kompliment muss dabei der Dramaturgin Hella Bartnig für die Einrichtung der deutschen Übertitel gelten. Ihr gelingt es, den Zauber der Poesie Puschkins in prägnanten Worten auferstehen zu lassen. So kann das Publikum konzentriert die Sänger in ihrer Vitalität und bisweilen kindlichen Freude am Spiel erleben, allen voran Boris Statsenko als König mit seiner voluminösen souveränen Baritonstimme. Corby Welch und Roman Hoza geben seine beiden Söhne lausbübisch und verspielt, wie es die Rollen verlangen.
Antonina Vesenina als Königin von Schemacha erfüllt mit voll präsentem Sopran das Phantasiebild der orientalischen Schönheit, zumal ihr Glitzerkostüm die Projektion der Verführung zur Vollendung bringt. Das Publikum packt freilich stärker Renée Morloc in der Rolle der herrlich überdrehten Haushälterin Amelfa. Ist die Art und Weise, wie sie die zum Teil drastisch angelegte Rolle spielt und den gebratenen Hahn gegen den König schwingt, schon prächtig, so ist es ihr sonorer Mezzo nicht minder. Von der jungen Eva Bodorová in der Titelrolle wird mehr als Übliches verlangt. Von wechselnden Plätzen im Rang hat sie im Federkostüm des Hahns, den antiken Sirenen gleich, weit vernehmliche Rufe auszustoßen. Beides schafft die Sopranistin aus dem Düsseldorfer Opernstudio mit Bravour. Einen superben Eindruck hinterlässt Cornel Frey in der Partie des Astrologen, die Rimski-Korsakow in der raren äußerst hohen Stimmlage des Tenor-Altino angelegt hat, auch als Eunuchen-Stimmlage bekannt. Puschkin bezeichnete so die rätselhafte Figur des orientalischen Weisen. Quasi stimmlich ein wuchtiger Kontrapunkt ist Sami Luttinen in der Rolle des bulligen Generals Polkan.
Das Publikum versteht die Aufführung augenscheinlich als großen Spaß und quittiert die Leistungen aller Mitwirkenden mit anhaltender, wenn auch nicht überschwänglicher Emphase. Ob der vergoldete Vogelkäfig, Gefängnis für einen ursprünglich gewollten echten wie den dann zum Zuge gekommenen künstlichen Hahn, auch als Symbol für die Bedrohung der Kunst, gar die Grenzen der politischen Satire gedeutet wird, bleibt unbestimmt. Immerhin platzt die Düsseldorfer Premiere in eine aktuelle, fast schon pathologische gesellschaftliche Debatte um genau diese Frage. Bekanntlich ist ein selbstverliebter Satiriker auf einem PR-Trip in eigener Sache der Versuchung erlegen, etwas in Deutschland auszutesten, was wenn überhaupt in der Türkei sinnvoll sein könnte. Jeder Jurastudent im vierten Semester könnte die Überflüssigkeit dieses Unterfangens an Hand von Dutzenden Gerichtsurteilen bestätigen.
Und wenn es doch – im Namen der Satire-Freiheit – auf einen neuerlichen Versuch ankommen sollte? Weil die Kunst-Freiheit auch das Banale und das Billige erlaubt? Der goldene Hahn in Düsseldorf gibt auch hier eine Antwort, nicht plakativ, aber märchenhaft versteckt. Lernen und erleben lässt sich jetzt und in allen kommenden Aufführungen, dass die Kunst der Oper politische Satire einfach besser versteht, poetischer, charmanter, wirksamer, professioneller und … spaßiger in jedem Fall als ein hingeschustertes „Schmähgedicht“. Kurzum eine famose Lektion, die ausgerechnet eine gut einhundert Jahre alte junge russische Oper der hysterischen Gesellschaft westlich von Berlin anno 2016 erteilt.
Ralf Siepmann