Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
FRÁGIL
(Leonor Leal, Michio Woitgardt)
Besuch am
19. März 2016
(Uraufführung)
Das diesjährige Flamenco-Festival im Tanzhaus NRW ist eröffnet. Bis Ende März erhebt das Tanzhaus für sich den Anspruch, die Spitzenliga der modernen Flamenco-Tänzer zu zeigen. Mit zwei deutschen Erstaufführungen und zwei Uraufführungen bei insgesamt sechs Produktionen, zahlreichen Workshops und Publikumsgesprächen scheint schon mal eine gute Basis gegeben, auch was die Publikumsbeteiligung angeht.
Und das Publikum ist interessiert. Der große Saal ist zur ersten Uraufführung des Festivals voll besetzt. Während die Besucher noch ihre Plätze einnehmen, betritt Leonor Leal die Bühne. Im dunklen, enganliegenden Kleid wiegt sie sich in lockeren Tanzschritten und schwenkt den roten Fächer. Sehr entspannt bewegt sie sich über die weiße Tanzfläche, an deren Rändern Bodenmikrofone später die getanzten Rhythmen akustisch verstärken werden.
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Am rechten Bühnenrand hat Musiker Michio Woirgardt seine ganz persönliche „Juke-Box“ aufgebaut, mit der er die Aufführung mit elektronischer, selbstkomponierter und teils improvisierter Musik unterstützen wird. Michelle Hummeltenberg zaubert zunächst eine trapezförmige Lichtfläche auf die rückwärtige Wand, wird später Ana Lessing Menjibar bei der Umsetzung ihres unaufdringlichen visuellen Konzepts – das allerdings auch wenig Erkenntnisgewinn bietet – unterstützen. Überhaupt erstaunt der enorme Personalaufwand für diese Team-Arbeit. Allein für das Kostüm, bestehend aus Trikot und zwei Kleidern, sind die drei Damen Tina Miyake, Teresa Baena und Michaela Kraft beauftragt. Für die choreografische Regie ist außerdem niemand Geringeres als Maura Morales engagiert. Sie beeindruckte zuletzt mit ihrer Arbeit Die Stadt der Blinden. Ob ein solcher Personalaufwand für eine 50-minütige Aufführung gerechtfertigt ist, muss letztlich eine Person beweisen: Leonor Leal.
Leal stammt aus dem spanischen Jerez de la Frontera. Dort studierte sie auch klassischen und spanischen Tanz, ehe sie sich in Jerez und Sevilla dem Flamenco widmete. Nachdem sie Erfahrungen in verschiedenen Compagnien gesammelt hatte, stellte sie 2008 mit Leoleolé ihr erstes eigenes Werk vor. Mit Frágil – im vergangenen Jahr war ein Work-in-progress im Tanzhaus zu erleben, also eine Art Zwischenstand eines sich entwickelnden Stückes – will sie nun ihren eigenen Entwicklungsstand präsentieren.
Ungewöhnlich zunächst das Erscheinungsbild, das nicht so recht den Vorstellungen von einer Flamenco-Tänzerin entsprechen will. Kurzhaarfrisur – Friseure nennen so was wohl Bob – und ein Minikleid mögen nicht ungewöhnlich erscheinen, in der traditionellen Welt des Flamencos hat das den Ruch von Revolution. Da will also offenkundig jemand mit dem Alten brechen. Und das ist legitim, wenn das Neue mehr zu bieten hat. Leal äußert sich dazu vorsichtig. Zerbrechlich nennt sie ihr neues Stück – treffender könnte ein Titel auf allen Ebenen nicht sein. Da sind zunächst ihre eingänglichen Bewegungen, die weniger an Flamenco als an zeitgenössischen Tanz erinnern, oft in Flamenco-Schritte einmünden, die letztlich zittrig scheitern. Unfertig wirkt das, vielfach unbeholfen, um dann mit neuem Selbstbewusstsein exzessive Flamenco-Passagen zu tanzen. Ist also die Symbiose modernen Tanzes und des Flamencos die Antwort? Die Tänzerin bleibt die Antwort wohl deshalb schuldig, weil sie sie für sich selbst noch nicht gefunden hat. Was die Suchende von den Blinden abhebt, ist die Weiterentwicklung auch der Flamenco-Bewegungen. Hier beweist sie Können in Perfektion.
Ergänzt wird der divergierende Auftritt durch die Musik von Woitgardt. Der Clou: Inmitten der „üblichen“ sphärischen Klänge moderner Musik ertönen Rhythmus-Elemente, die eigentlich den Tänzern zugeschrieben werden. Da sind Kastagnetten wie ein Zikadensturm zu hören, das eindringliche Stampfen der Flamenco-Füße dröhnt in Heeresstärke. Dazwischen klingt die klassische Flamenco-Gitarre auf. Eindringlich bedient sich Woitgardt der Endlosschleifen, im Fach-Jargon ist das die Loop-Technik. Und wie zerbrechlich die eigene Musik ist, wird am „Zerbröseln“ eines Plastik-Bechers vor dem Mikrofon deutlich.
An diesem Abend werden keine Antworten gegeben, aber die Fragen auf allen Ebenen richtig gestellt. Da kann man über die eine oder andere Holprigkeit leicht hinwegsehen. Und sich vollständig der Faszination hingeben, auf sehr hohem Niveau etwas ganz Besonderes erlebt zu haben. Vor allem aber steigt die Lust, die weitere Entwicklung von Leonor Leal mitzuerleben. Das Publikum erlebt es ähnlich und feiert das Team mit allem, was der Applaus hergibt, in ausgiebiger Länge: Gelungener Einstand für ein aufregendes Festival, das in den meisten Veranstaltungen bereits ausverkauft ist.
Michael S. Zerban