Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
1816 - DAS JAHR OHNE SOMMER
(Simon Wills)
Besuch am
2. Juni 2016
(Uraufführung)
Andre jagten ab und zu und schürten mit Holz die eig’nen Scheiterhaufen an, sahn mit verrückter Unruh nach dem Himmel.“ Die düstere Endzeitstimmung in Lord Byrons Darkness aus dem Jahr 1815 passt zum Boui Boui Bilk, einer ehemaligen Fabrikhalle, die zu einer „Event-Location“ umgenutzt wurde. Hier hat das Musik-Theater Kontra-Punkt im Rahmen des Schumannfestes für fünf Aufführungen Einzug gehalten. Der raue, verfallende Industrie-Charme eignet sich weniger für Lackschuh und Champagner-Kühler, dafür umso mehr für Fantasie-Welten und Visionen für ein anderes Musiktheater.
200 Jahre ist das Jahr ohne Sommer her. 1815 brach der Vulkan Tambora in Indonesien aus. 45 Kilometer hoch ragte die die Explosionswolke in die Höhe – wer auch immer das wie festgestellt haben will – und bewirkte eine massive Klimaveränderung vor allem in Europa und Nordamerika. Auch vieles andere war im Gange. Die Dampfmaschine war auf ihrer Höhe, die Draisine wurde erfunden, das Fahrrad entwickelte sich weiter, während der Hunger vor allem die Bevölkerungsschichten traf, die Nahrungsmittel nicht bezahlen konnten. Kurzum, der Mensch, der gerade dabei war, sich die Welt untertan zu machen, bekam von der Natur einen schweren Hieb verpasst und war nicht gewillt, soziale Probleme zu lösen. Für den Komponisten Simon Wills und die Librettistin Annette Bieker die perfekte Parallele zur Gegenwart. Wills dreht die übliche musiktheatralische Situation um. Er schafft ein Chorwerk mit geringfügiger musikalischer Untermalung. Bieker gelingen so Bilder einer lebendigen Ausstellung des Jahres 1816, die unter die Haut gehen, weil der Besucher am Ende nicht mehr genau weiß, in welchem Jahr er sich eigentlich befindet.
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Die geniale Klammer ist der Zukunftsforscher, der eingangs seine Wissenschaft zu einer seriösen erklärt. Der Zukunftsforscher ist weder Prophet noch Trendforscher. Er schaut in die Vergangenheit und versucht, daraus Modelle für die Zukunft abzuleiten. Also taucht er immer wieder auf, um die Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufzuzeigen. „Aber wann ist ein Boot voll? Wie viele Migranten verkraftet eine Gesellschaft? Eine Million auf 80 Millionen, oder zwei Millionen? Können wir das nur am Grad der Angst in der Bevölkerung messen? Unsere Phobien. Unsere Ängste vor Fremden. Wozu haben wir die?“ fragt einer, der beobachtet, wie Afrikaner ursprünglich Europa besiedeln, um später nach Nordamerika auszuwandern. Immer wieder ist die Triebfeder, die Massen in Bewegung bringt, die existenzielle Not. Die Reichen bleiben zurück, stets ihre gesamte Kraft aufwendend, die Pfründe zu sichern. Bis sich die Situation umkehrt. Hungernde Deutsche stehen in Basel vor den Toren der Stadt – und die Reichen müssen zusehen, dass sie ihre Pfründe verteidigen. Eine neue Entwicklung? Die Frage bleibt offen, wie die gesamte Aufführung nicht den moralischen Zeigefinger erhebt, sondern die – fehlenden – Unterschiede zwischen zwei Jahrhunderten zeigt.
Dazu hat Jan Kocman Kostüme entworfen, die irgendwo zwischen Historie, Zirkuswelt und Fantasie angesiedelt sind. Das Personal tritt in immer neuen Bildern auf, die in einer mit Folien verhangenen Fabrikhalle mal verschwommen hinter der Folie, mal konkret in Berührung mit dem Publikum auftreten. Regisseur Frank Schulz will keine Interaktion, sondern durch Nähe Betroffenheit schaffen. Die wenigen schwurbeligen Projektionen, ohnehin nur für die Hälfte des Publikums erkennbar, hätte er sich auch schenken können. Aber sie schaden auch niemanden. In die Projektionen eingebaute Übertitel wären sehr viel hilfreicher gewesen. Die gibt es nicht.
Als Schauspieler treten Dominik Bender als Lord Byron und Annette Bieker als Mary Shelley auf. François Jean-Clement van Eeckhaute macht eine gute Figur unter anderem als der Maler William Turner. Xolani Mdluli schließlich beeindruckt als Zukunftsforscher mit der Frage: „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass Ihr Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater vielleicht schwarz war?“ Und er lächelt wie verrückt, damit man ihn im Halbdunkel der Aufführung an seinen Zähnen erkennen kann. Hat er auch so angekündigt.
Der Ratinger Kammerchor beeindruckt durch wunderbaren Gesang, einstudiert und dirigiert von Dominikus Burghardt. Dass die Textverständlichkeit dennoch gegen Null geht, mag an der Akustik der verhängten Halle liegen. Als der Chor durch das Publikum zieht, darf man kurz die Klarheit der Stimmen bewundern.
Die zeitgenössische Komposition, vor der offenbar auch an diesem Abend viele zurückgeschreckt sind – in der Halle wäre noch viel Platz gewesen – erweist sich als eingängig, ohne sich anzubiedern. Auch hier mischen sich Zirkusmusik, Alte Musik und Gegenwartsexperimente. Großartig die Idee, Metallscheiben in Kochtöpfen zu erhitzen und die daraus entstehenden Geräusche in die Ouvertüre einzubauen. Der Komponist selbst spielt die Posaune, Schellenbaum und Percussions, Bernd Bolsinger bearbeitet Klarinette und Piccolo-Flöte und Christine Hanl begeistert zudem mit schauspielerischen Elementen an der Viola und Schlaginstrumenten.
Obwohl sich der Applaus der wenigen beinahe verliert, ist er mit seinen Bravo-Rufen umso herzlicher gemeint. Eine mehr als repertoirefähige Aufführung findet nach zwei Stunden ein so eindrucksvolles Ende, dass man sich für die Folgevorstellungen mehr Zuschauer wünscht. Was die Veranstaltung, als Koproduktion und vielfach gefördert, mit Schumann zu tun hat, erschließt sich dem Außenstehenden nicht unmittelbar. Da hätte Michael Becker als Intendant des Schumannfestes sicher Erhellendes erläutern können. Von ihm war allerdings nichts zu sehen.
Michael S. Zerban