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Der Vorhang hebt sich. Die Musik schweigt. Ein Sixpack-Schönling steigt aus Violettas Bett. Nackt im Halbschatten ist seine Männlichkeit beim Ankleiden zu studieren. Wer jetzt meint, dass das so weiter geht, sieht sich im weiteren Verlauf getäuscht.
Tina Laniks Inszenierung von La Traviata an der Oper Dortmund biegt nach dem scheinbar unvermeidlichen nackten Auftakt, der inzwischen zu einem faden und abgestandenen Beigeschmack geworden ist, in eine biedere Erzählung ein. Auf- und Abgänge von Chor und Solisten einfallslos von rechts nach links oder umgekehrt. Stefan Hageneier hat eine palastartige, von Säulen getragene Vorhalle als kalte Lasterhöhle gebaut. Ihr zentralperspektivischer Aufbau ist für die solistischen Glanznummern von Giuseppe Verdis Melodrama eine evidente Standplatzvorgabe. Selten wird die gesamte Bühne für seine kalkulierten Nummernfolgen von Arien und Duetten genutzt.
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Bühne und Inszenierung kommen über eine Platzhalterfunktion als Ankündigungsperspektive für die Arien und Chöre nicht hinaus. Für eine schlüssige Aufführung setzt das voraus, dass spielerisch und sängerisch der dadurch geschaffene Freiraum nachvollziehbar und überzeugend gefüllt wird. Das kann bei La Traviata durchaus heikel sein. Landläufig als eine vom rechten moralischen Weg Abgekommene verstanden, ist das italienische „traviare“ differenzierter mit „irreführen“ zu übersetzen.
Für Violetta, die nach der von vielen geteilten, gleichwohl doppelbödig moralischen Überzeugung vom rechten Weg abgekommen ist und dabei ihre Orientierung verloren hat, stellt sich mit der Übersetzung „irreführen“ allerdings eine grundsätzlichere Frage. Welche Kriterien gelten für einen rechten, den richtigen Weg? Hinter einem Irreführen steht immer auch eine bewusste Absicht durch Dritte, einen falschen Weg als den richtigen zu suggerieren.
La Traviata zu inszenieren, bedeutet deshalb auch, mit dem Publikum gemeinsam in den Spiegel zu schauen. Lanik justiert ihn in einem rechten Winkel, voyeuristisch geschärft. Die ausgelassene Feiergesellschaft im Freudenhaus fotografiert die gastgebende Edelprostituierte Violetta, die mit einem luftig zarten, fliederfarbenen Kleid angetan ist, rücksichtslos bei deren von Krankheit kündenden Hustenanfällen mit ihren Handys. Gespeichert in den Weiten des Internets, sind die Bilder für alle Zeiten abrufbar und damit niemals vergessen. Wer sich einmal verirrt oder geirrt hat, wird einen bleibenden, kaum noch zu korrigierenden Abdruck in der Welt hinterlassen.
Ein Schelm, wer die vor Vorstellungsbeginn geknipsten Selfies im Zuschauerraum später metaphorisch in Violettas verzweifelten Seufzern Se pur benefico le indulga Iddio, l'uomo implacabil per lei sarà. – Wenn Gott auch Gnade mir verleiht, die Menschen werden stets mir Richter sein – aufscheinen sieht. Solche assoziativen Momente, die ins Heute spiegeln, sind in der Inszenierung punktuell angedeutet, ohne eine Lichtspur zu legen. Inszenatorisch bleiben Ungereimtheiten, die mehr mögliche Antworten suggerieren, als sie bieten.
Warum das Liebesduett von Violetta und Alfred im ersten Akt, wie später auch noch einmal im dritten Akt, orchestral vom Band eingespielt wird, erschließt sich nicht wirklich. Es wirkt eher irritierend als dramaturgisch konsequent.
Warum im ersten Bild des zweiten Aktes Alfredos Vater, Giorgio Germont, Violetta zum Liebesverzicht von Alfredo drängt und sie dabei gleichzeitig sexuell bedrängt, bleibt als Frage offen. „Warum der ihr noch an die Wäsche will? Das ist dummes Zeug. Es hat mit der Oper nichts zu tun!“, wendet sich in der Pause ein Mann seiner Partnerin unüberhörbar und lautstark zu.
Warum es dann eine Pause nach dem zweiten Akt gibt, die ebenso lange dauert, wie der dritte Akt selbst, scheint mehr ein Zugeständnis an das Pausengewohnheitsrecht zu sein, als dass sie sich aus der Inszenierung ergibt.
So bleibt La Traviata in Dortmund das, womit sie verlässlich seit ihrer zweiten Uraufführung 1854 weltweit die Opernbühnen erobert. Verdis unvergleichliche Musik ist eine, die vor allem den dramatischen Sopranistinnen von Maria Callas bis Anna Netrebko reichlich Gelegenheit gab und weiterhin gibt, zu glänzen.
Eleonore Marguerre, die seit zehn Jahren in Wien, Mailand, Venedig und in Dresden als Sopranistin überzeugt, hat seit der Spielzeit 2012/13 auch in Dortmund ihr Publikum. Sie ergreift die Chance umstandslos. Sie gestaltet eine gebrochene Violetta. Übermütig ins Freie ungehemmter Lust flirrt ihr Sopran in jubelnde Höhen, wie er heftigen Stromstößen gleich in ein mezzosopranes Dunkel abtaucht. Für beides, Hoffnung auf Liebe und die Vernichtungswucht der Verachtung selbstgewisser Moralisten, gibt es in Marguerres kultiviertem Gesang einen klangschönen Ausdruck.
Begleitet von ihrem ausdrucksstarken Spiel, das in einzelnen Posen ex negativo an Brigitte Bardots Camille in Jean-Luc Godards Fim Die Verachtung erinnert, gewinnt sie Violettas hoffnungslosen Träumen noch im Angesicht des Todes ein Leuchten ab. Die Feier ist zu Ende. Sie war letztlich eine Selbsttäuschung. Allein, es bleibt die Hoffnung. Sie streift über ihr farbgleiches Latex-Huren-Kleid das pastellfarbene vom Anfang.
Verdis Komposition gibt auch Alfredo reichlich Gelegenheit, mit seinem Tenor zu brillieren. Das Libretto von Francesco Maria Piave nach der Kameliendame von Alexandre Dumas fils macht es ihm ungleich schwerer, seine Position zwischen Geliebter und Übervater Giorgio zu finden. In Dortmund ist Ovidiu Purcel in der Rolle des Alfredo ein pubertierender Schwächling, der mehr will, als er vermag. Der nur dann stark erscheint, wenn er sich und anderen in einem ihm viel zu großen Macho-Gewand Sicherheit vorgaukelt.Darunter leidet in gewisser Weise auch seine sängerische Überzeugungskraft. Wie auf einer Achterbahn wechseln Höhen und Tiefen. In den lyrischen Pianissimo-Phasen klingt sein Tenor einfühlsam mit innigem Schmelz. Bisweilen versinkt er sanftmütig mit geradezu unterwürfiger Anmutung. In den dramatischen Passagen stemmt er seinen Tenor mit Kraft nach oben. Dabei geht ihm schon mal die Puste aus.
Während Marguerre auch in allen weiteren Vorstellungen nach der Premiere die Violetta singen wird, ist Sangmin Lee als Giorgio Germont ebenso wie Ovidiu Purcel vorerst nur in der Premiere zu erleben. Sangmin Lee, der als baritonaler Garant für überzeugende Klangkultur seit 2007 in Dortmund wirkt, ist, und das ist vielleicht die Überraschung der Premiere, der heimliche Star des Abends.
La Traviata ist eine Oper, die von Verdis häufig verwendeter Dreieckskonstellation Sopran – Tenor – Bariton ihre Klangfarbigkeit bezieht, insonderheit Violetta mit kolorierten Arien in den Vordergrund rückt. Allein mit Giorgio Germont zeigt Sangmin Lee eine bühnenfüllende, wirkungsmächtige Präsenz. Sein Bariton malt deutlich artikulierend ein Charakterbild von zwielichtigem Charme. Dass die Regie ihm noch die Rolle desjenigen überstülpt, der Violetta mit seinem eindeutigen Griff nach ihrer Wäsche begehrt, tut seinem bezwingend intensiven Gesang keinen Abbruch.
Motonori Kobayashi stimmt die Dortmunder Philharmoniker vom ersten Ton an auf ein gedehntes, die Pausen auskostendes Spiel ein. Nach der mehrminütigen Wartezeit nach dem theatralen Vorspiel kommt die Musik aus dem Orchestergraben wie aus einer weiten Ferne. Leise, erst nach und nach hörbar, als gelte es, vor dem anschließenden walzerseligen Spektakel innezuhalten, entfaltet sich ein feinstrukturierter Orchesterklang.
Manuel Pujol hat den Opernchor des Theaters Dortmund dynamisch auf Kobayashis Dirigat eingestimmt. Von Stefan Hageneier in schwarze Strapse mit Torero-Hemdsärmligkeit gesteckt, befreien sie sich mit ihren Stimmen übers nackte Fleisch zu bravurösem Chorgesang.
Nachdem sich bereits im ersten Akt die eifrigen Szenenapplaudierer vehement Gehör verschafft haben, gibt es am Ende lautstarke Zustimmung für Solisten, Chor, Ensemble und Orchester sowie viele bravi. Zu Recht gelten sie zuerst Eleonore Marguerre. Als Sangmin Lee vor die Bühne tritt, schwillt der Applaus auf eine ähnliche, vielleicht sogar noch um einige Dezibel höhere Lautstärke an.
Peter E. Rytz