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Aktuelle Aufführungen
EDGAR
(Giacomo Puccini)
Besuch am
28. Mai 2016
(Deutsche Erstaufführung)
Zu sehen ist es kaum, zu hören gelegentlich, große Gegenliebe hat es nie erfahren, weder beim Publikum noch beim Komponisten selbst: Edgar heißt das Sorgenkind des 30-jährigen Puccini, mit dem er auf Drängen seines Verlegers Ricordi den Erfolg seines Opern-Erstlings Le Villi wiederholen sollte. Daraus wurde nichts. Nach der flauen Uraufführung 1889 an der Mailänder Scala arbeitete Puccini das Werk bis 1905 drei Mal um, unter anderem mit kühnen Strichen, die die Spieldauer fast halbierten. So wenig, wie es Beethoven gelungen ist, aus dem viel zu engen Libretto der Leonore einen rundum befriedigenden Fidelio zaubern zu können, der den Freiheits-Visionen Beethovens gerecht werden konnte, stimmen auch bei Puccinis Edgar die Voraussetzungen nicht für die Ansprüche, die Puccini an eine Vorlage stellte. Unabhängig von den musikalischen Qualitäten fehlen dem Werk exakt die Ingredienzen, die zum Erfolg seiner späteren Geniestreiche beitragen sollten: eine glasklare Handlung, differenzierte Charaktere und ein dramaturgisch pointiert ausgearbeitetes Libretto. Attribute, um die Puccini leidenschaftlich kämpfte und für die er keinem noch so verbissenen Konflikt mit seinen Librettisten aus dem Wege ging.
Wenn auch mehrfache Revisionen inklusive der Endfassung aus dem Jahre 1905 das Werk nicht auf die Erfolgsspur bringen konnten, könnte vielleicht die Begegnung mit der fast doppelt so langen Urfassung von Interesse sein, der Verbreitung zumindest nicht schaden. Der beharrlichen Sisyphos-Arbeit von Linda Fairtile ist es zu verdanken, aus einem Wust an Skizzen, Korrekturen und Strichen die 1889 verwendete Urfassung rekonstruiert zu haben, die jetzt das Dortmunder Festival Klangvokal im gut besuchten Dortmunder Konzerthaus als deutsche Erstaufführung zu Gehör bringt. Freilich nur konzertant, was angesichts der verworrenen und wenig logischen Handlung nicht unbedingt von Nachteil sein muss.
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Die Handlung in aller Kürze: Der junge Bauer Edgar ist zerrissen zwischen der Liebe zur braven Bauerstochter Fidelia und zur dämonisch-verführerischen Maurin Tigrana, der auch Edgars Bruder Frank nachstellt. Trotz des schlechten Leumunds Tigranas entschließt sich Edgar, mit ihr das Land zu verlassen. Aber erst, nachdem er sein Haus in Brand gesteckt und seinen Bruder bei einem Messerkampf verletzt hat. In der Fremde muss Edgar in den Krieg ziehen, wobei es zur Versöhnung der Brüder kommt. Die Schlacht endet erfolgreich, auch wenn Edgar als gefallen betrauert wird. Auch und besonders heftig von Fidelia. Ein vermummter Mönch stachelt die Versammlung mit Schmähreden über Edgars Lebenswandel gegen den Verstorbenen auf. Empörung macht sich breit, wobei sich Fidelia als einzige gegen die Vorwürfe erhebt. Der Mönch demaskiert sich und gibt sich als Edgar zu erkennen. Jetzt kennt die Liebe zwischen den beiden keine Grenzen. Die Hochzeit wird vorbereitet, doch die eifersüchtige Rivalin Tigrana ersticht Fidelia und lässt einen verzweifelten Titelhelden zurück.
Ein Schauermärchen im Stil romantischer Trivialliteratur mit klischeehaften Figuren, unlogischen Abläufen und allerlei Sonderlichkeiten, das nichts mit den psychologisch geschliffenen, dramaturgisch auf den Punkt gebrachten Handlungen und Libretti der späteren Erfolgsopern Puccinis gemein hat und letztlich auch nicht zu retten ist.
Musikalisch werden wir Zeuge eines genialen Meisters auf der Suche nach sich selbst. Die idiomatische Tonsprache Puccinis lässt der Edgar zwar im Rohzustand erkennen, allerdings überwuchern Anleihen an die französische Grand Opéra, an Verdis späten Stil und sogar an Wagners musikdramatische Deklamatorik häufig den sich ankündigenden unverkennbaren Tonfall des Komponisten. Immerhin leuchten bereits die raffiniert instrumentierten, einfühlsamen Lyrismen auf, mit denen Puccini seine berühmten Heldinnen umflorte. Im Edgar bedenkt er die ebenso zarte wie starke Bäuerin Fidelia mit dankbaren Aufgaben, die ihre Liebe zu Edgar gegen alle Widerstände verteidigt und dafür sogar ihr Leben opfert. Und aus dem großen, leidenschaftlichen Liebesduett im vierten Akt bediente er sich später sogar für den Final-Akt der Tosca.
An Schönheiten mangelt es der Partitur nicht. Weder an effektvollen Chören noch an subtilen und emotionsstarken Tönen. Gerade von den Feinheiten ist in Dortmund allerdings nicht allzu viel zu hören, da Alexander Joel das Kölner WDR-Funkorchester, von ganz kurzen Verschnaufpausen abgesehen, zu einem Gewaltritt im Dauerforte antreibt. Selbst die mit recht robusten Stimmen ausgestatteten Solisten haben es schwer, sich gegen die klanglichen Druckwellen durchzusetzen. Am stärksten betroffen ist Gustavo Porta in der kräftezehrenden Titelpartie, der seinen schönen, kraftvollen Tenor unter diesen Bedingungen ständig an die Grenzen seiner Möglichkeiten führen muss. Dadurch klingt auch die Stimme der Mezzosopranistin Rachele Stanisci in der Rolle der bösen Gegenspielerin Tigrana schärfer als nötig. Ein wenig Rücksicht nimmt Joel auf Latonia Moore als Fidelia, die ihre Liebesschwüre und -klagen mit ihrem tragfähigen und nuancenreichen Sopran weitgehend ungehindert aussingen kann.
Prächtig setzen sich die tiefen Stimmen von Evez Abdulla als Edgars Bruder Frank sowie Bogdan Talos als Fidelias Vater durch. Der WDR-Rundfunkchor und der Kinderchor der Dortmunder Chorakademie sorgen in den Massenszenen für effektvolle Wirkungen.
Das Publikum reagiert dankbar und begeistert auf die Begegnung mit einer aufschlussreichen Rarität, die allerdings nie Eingang ins Opernrepertoire finden wird.
Pedro Obiera