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Aktuelle Aufführungen
Grundsätzlich sind es physische Grenzerfahrungen, die den 1963 geborenen Komponisten Christian Jost inspirieren. Als ihm vor zehn Jahren der Rundfunkchor Berlin einen Kompositionsauftrag mit der Zielsetzung erteilte, die Rolle des Chores im Musiktheater neu zu definieren, wählte er das Thema Angst. 2006 wurde Angst. 5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst für Chor, Chorsolisten, Instrumentalensemble und filmische Projektionen beim Ultraschallfestival in Berlin uraufgeführt, 2009 übernahm die Komische Oper Berlin das einstündige Werk in ihren Spielplan, 2010 erfolgte eine Neuinszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar. Damals war Karsten Wiegand Operndirektor in Weimar. Mittlerweile als Opernchef in Darmstadt tätig, präsentiert er jetzt zur aktuellen Premiere auf der Darmstädter Bühne Josts Choroper in einer Weiterentwicklung seines Weimarer Regiekonzepts.
Eine wahre Begebenheit bildet Ausgangs- und Endpunkt der Oper. Im Zentrum steht eine Bergsteiger-Tragödie, die sich 1985 in den peruanischen Anden ereignete und später in dem Erlebnisbericht Sturz ins Leere veröffentlicht wurde. Beim Abstieg verletzt sich der Bergsteiger Joe Simpson schwer. Sein gesunder Partner Simon Yates will ihn abseilen. Im Nebeldunst erkennt er jedoch nicht die Gletscherspalte. Simpson kann das Seil nicht mehr entlasten, weil er frei in der Luft hängt. Yates kann das Seil nicht mehr halten, weil sein Schneesitz unter ihm wegbricht. Eine Kommunikation ist nicht möglich. In dieser Situation kappt Yates das Seil. Simpson stürzt in die Gletscherspalte und kann sich wie durch ein Wunder retten.
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Jost erzählt jedoch nicht diese Geschichte, sondern nimmt sie lediglich zum Anlass für eine Innenschau auf das Erlebnis von Angst im Augenblick der Vermutung einer möglichen Katastrophe und das aus verschiedenen Positionen.
In Teil eins und fünf bietet die Bergsteigerkatastrophe einen konkreten Bezug zum Erleben von Todes- und Überlebensängsten und von widerstreitenden Gewissenskonflikten in einer ausweglosen Situation. Eine Betrachtung aus der Sicht der Kunst folgt in Teil zwei durch das im Stile einer altgriechischen Tragödie angestimmte Sextett auf ein Gedicht An die Parzen von Friedrich Hölderlin. In Teil drei nutzt Jost die Kind-Perspektive zur psychologischen Ergründung. Der vierte Teil bietet Raum für die Sicht der emotionsfreien Wissenschaft.
Im Einführungsvortrag zur Samstagspremiere betonen Jost und Wiegand, dass die Choroper einzig als Kunstwerk zu betrachten sei. Tatsächlich erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Thema überaus distanziert, geradezu sachlich.
Schauplatz der Aufführung und Zuschauerraum bildet die in sich abgeschlossene Bühne. An der Video-Decke ziehen Wolkenformationen vorüber. Videoeinspielungen auf der weißen Chorbühne zeigen zeitweise schemenhaft das Schicksal der Bergsteiger, das Gesicht eines verängstigten Kindes oder Hirnwindungen. Zu konkret möchte man sagen für die artifizielle Musik.
Diese garantiert der Chor, verstanden als eine Stimmeneinheit, auch wenn er zeitweise in kleinere Formationen bis hin zur Soloeinlage aufgebrochen wird. Die instrumentale Begleitung ist nur marginal. Ungewöhnlich in der Besetzung mit vier Celli, E-Bass, Vibraphon, Flöte, Klarinette, Trompete und Klavier entsteht schnell der Eindruck, nur Ergänzung und Begleitung zu sein.
Die Inszenierung verläuft wohltuend sparsam. Zu Beginn sitzt der Chor mitten unter den Zuhörenden und zieht die Besucher damit unmittelbar in das Erlebnis einzelner Klänge und Vibrationen. Dann zieht er wie in der griechischen Tragödie auf sein Podium und kündet von der Angst. Dass sich die Zuschauertribüne am Ende nach vorne bewegt, mag als bedrohlicher Augenblick beabsichtigt gewesen sein, ist nüchtern betrachtet jedoch ein verzichtbarer Gag. Gleiches möchte man den Videoeinspielungen attestieren.
Was den Zuschauer bannt, ist das Suchen nach dem Erlebnis der verschiedenen Facetten der Angst. wie sie im Textbuch hervorragend beschrieben, auf der Opernbühne, auch durch die visuellen Beigaben abgelenkt, nur vordergründig durchdringen. Der Chor meistert seinen Part uneingeschränkt souverän, aber nur mäßig expressiv.
Das kleine Instrumentalensemble kann daran wenig ändern. Dirigent Thomas Eitler-de Lint leitet die Ensembles sicher im Zusammenspiel. Wünschenswert wäre, dass er auch die anfänglichen Sprechteile dirigiert. Das Publikum ist von den Leistungen des Chores wie einzelner Solistinnen angetan und applaudiert jedem einzelnen Chormitglied. Berührt zeigt es sich vom Werk aber nicht.
Christiane Franke