Kulturmagazin mit Charakter
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Immerhin 40 Jahre ist Wozzeck an einem so kreativen und experimentierfreudigen Haus wie Bremen nicht mehr neu inszeniert und hinterfragt worden. Paul-Georg Dittrich legt nun in seiner Neuproduktion den Schwerpunkt auf die Unausweichlichkeit des menschlichen Charakters, der uns letztlich gewissermaßen systemisch nicht erlaubt, aus dem alten Kreislauf von Gewalt und Ausgrenzung herauszufinden.
Die berührendste Komponente dieser Sichtweise wird durch immerwährend mitspielende Kinder repräsentiert, die in der komplett durchsichtigen, auf bis zu drei Ebenen mit einfachem Stahlgerüst gegliederten Bühne von Pia Dederichs, die zusammen mit Lena Schmid auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, agieren. Diese Kinder sitzen oft vor Monitoren, die Ihnen die scheinbar großen Pflichten ihres Lebens mit den übergroß erscheinenden Phrasen wie „Disziplin“, „Reinlichkeit“ oder „Strafe“ unentrinnbar demonstrieren. Sie werden dem – obgleich in aller physischen Durchsichtigkeit auf der Bühne präsentierten – Schicksal ganz klar in der nächsten Runde des Geschehens, also ihrer eigenen Zukunft, nicht entgehen können. Das ewige Kreisen der Drehbühne macht das ebenfalls überdeutlich. Am Ende des Abends sind alle – auch die Erwachsenen – wieder in ihrer Ausgangssituation und neu positioniert für eine weitere Drehung dieses ausweglosen Lebenskreises.
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Die Videoeffekte von Jana Findeklee und die Lichtgestaltung von Joachim Grindel tragen ebenso zur systematischen Unausweichlichkeit bei wie die sich drehende Bühne, die nicht nur die Akteure auf der Bühne schwindelig macht. Dabei dreht sich in zur Bühne entgegengesetzter Laufbahn die gelbe Scheibe einer Sonne, die im Verlauf der Handlung am See durch eine Finsternis verdunkelt wird.
Dieses Bild und die Videoeinspielungen auf zwei im Raum positionierten Vorhängen verschaffen den Szenen und Stimmungen Nachdruck, ohne die handelnden Personen oder deren Spiel zu relativieren.
Mit Claudio Otelli kann Bremen einen schon in anspruchsvollen, vorangegangenen Produktionen wie Rigoletto und Meistersinger bewährten, durch seinen Charakter grüblerisch-introvertierten Wozzeck präsentieren, der der Titelfigur in jeder Faser seines Spiels und Singens ausdrucksstark gerecht wird.
Einen solchen persönlichkeitsstarken Gegenpol braucht es allerdings in dieser Umsetzung, denn es gab Inszenierungen, die die Entwicklung und das Leiden Wozzecks eindringlicher und fokussierter auf die Titelfigur bezogen in den Mittelpunkt gestellt haben.
Die in der Rolle der Marie debütierende Nadine Lehner bleibt der Rolle gesanglich nichts schuldig. Mehr noch – sie verausgabt sich darstellerisch als junge verzweifelte, das Leben nicht aufgebende junge Frau, ganz außerordentlich. Man merkt ihr die Verzweiflung bis zur körperlichen Aufgabe an. Eine große künstlerische Leistung.
Im Gegensatz dazu singen und agieren die anderen Ensemblemitglieder oft tendenziell statischer und quasi system-stützend. Wie Lemuren, die in ihren Rollen keine Empfindungen mehr von anderen Wünschen oder Begierden erahnen können. Diese Unterwerfung wird auch in den teils krass überzeichneten Kostümen und der Personenführung deutlich.
Gleichwohl heißt das nicht, dass die Sänger ihre Rollen nicht mehr als ansprechend ausfüllen. Der Tambourmajor von Christian-Andreas Engelhardt ebenso wie Hauptmann und Doktor von Martin Nyvall und Christoph Heinrich. Die guten Ensembleleistungen werden abgerundet von Hyojong Kim als Andres, Anna-Maria Torkel als Margret und die Handwerksburschen Daniel Ratchev und Jörg Sändig.
Dem Chor kommt neben seinen gesanglich überzeugenden Leistungen wie in der Wirtshausszene auch die darstellerische Aufgabe zu, eine Menschenwand zu bilden, in der gefangen Wozzeck unentrinnbar seinem weiteren Schicksal unterliegt. An den Händen und Kostümen dieser ihn umgebenden Gesellschaft haftet mindestens so viel Blut wie an den Händen Wozzecks – ein starkes Bild.
Die Bremer Philharmoniker überzeugen und überraschen gleichermaßen. Wo heute Dirigenten beim Wozzeck oft versuchen, das Spiel des Orchesters, oder besser noch jedes Soloinstruments laufend durch extrem expressionistische Phrasen zu steigern, vertraut Poschner ganz auf die innere Klangstruktur der Partitur in ihrer Einheit, ohne exaltierte Hervorhebungen oder andersartige, klangliche Überraschungen. Das Orchester folgt ihm uneingeschränkt und ist neben zarten Tönen zum Beispiel bei Marie auch zu den gewaltigen Ausbrüchen fähig.
Das Publikum folgt der Aufführung gebannt. Ein einzelner lautstarker Buhruf noch vor dem Einsetzen des Applauses ist später bei einhelligem Beifall für alle Beteiligten, insbesondere aber für Marie und das Orchester, nicht mehr zu vernehmen, auch nicht für das Regieteam, das im Gegenteil starken Beifall erfährt.
Achim Dombrowski