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Alle Vorzeichen scheinen auf eine Sensation mittlerer Größe hinzudeuten. Die szenische deutsche Erstaufführung einer frühen Oper Giuseppe Verdis steht auf dem Spielplan des Hauses, das zu seinen Glanzzeiten als „Scala am Rhein“ gerade mit dem italienischen Repertoire weithin beachtetes Renommee erwarb und jetzt auf dem Wege einer Koproduktion mit dem Theater ABAO Bilbao punkten will. Jérusalem wird gegeben, die Überarbeitung des 1843 entstandenen Kreuzfahrerdramas I Lombardi Alla Prima Crociata, in französischer Sprache. Der gerade 34-jährige Verdi, berauscht vom Londoner Erfolg der Uraufführung seiner I Masnadieri, hat sich entschlossen, nach den Sternen zu greifen, einem Triumph an der Opéra Paris, dem damaligen Zentrum des Operngeschehens. Verdi beugt sich dem Erwartungsdruck, der vom Genre der Grand opéra ausgeht, und baut in die Originalpartitur allerlei zusätzliche Effekte ein, insbesondere ein fast zwanzig Minuten umfassendes Ballett.
Jérusalem erweckt nach der vom Publikum 1847 beifällig aufgenommenen Pariser Uraufführung durchaus das Interesse einiger Impresarios, so von Theatern in Belgien. Doch bleibt es bei einer cosa rara. Auch eine Rückführung des Werks ins Italienische unter dem Titel Gerusalemme bringt es auf gerade einmal sieben Produktionen. An dem Schattendasein wird sich voraussichtlich auch in Zukunft nicht viel ändern. Wie der Bonner Premierenabend deutlich zeigt, ringt die Ausgrabung der französischen Originalfassung mit ihrer Existenzberechtigung auf der Bühne, solange nicht eine für die Gegenwart schlüssige Regiekonzeption gefunden ist. Eben diese ist im Haus am Boeselagerhof nicht anzutreffen. Schade, denn die Trouvaille wäre es wert.
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Ist schon die Genesis des Außenseiters ungewöhnlich, so ist es die Geschichte, die Alphonse Royer und Gustave Vaëz nach dem ursprünglichen Libretto von Temistocle Solera erzählen, erst recht. Der Vierakter greift eine Kreuzritterepisode am Ende des elften Jahrhunderts auf, die den Bogen von Toulouse bis nach Palästina, Ramla und Jerusalem schlägt. Dem Drama geschuldet sind gleich zwei Konfliktstränge: die beliebte Konstellation von verfeindeten Familienstämmen und die zum Zeitpunkt der Uraufführung populären Verwicklungen in der Durchmischung von Orient und Okzident. Leidenschaft, Liebe, Intrige und selbst Inzest bilden die ideale Folie für den militanten Pilgerzug ins sogenannte Heilige Land, die mit der Unterwerfung Jerusalems und in der Tötung tausender Mohammedaner und Juden gipfelt. Im großen Finale A toi gloire, dieu de victoire, ganz auf den Geschmack des Pariser Publikums getrimmt, preisen die Kreuzzügler ihren Gott als Schirmherrn des Sieges.
Heute, da die Muster der Usurpation im Namen einer Religion, besser bekannt als Dschihad, eine grausige Aktualität gewonnen haben, wäre Jérusalem, neu reflektiert und weitergedacht, ein idealer Stoff, die massenhafte Verblendung unter dem Deckmantel einer scheinbar Legitimation liefernden Theologie zu dekuvrieren. Regisseur Francisco Negrin benimmt sich jedoch freiwillig dieser Chance, das Verhältnis der modernen Menschenrechte zur Ideologie des angeblich „berechtigten“ Krieges im Namen des „wahren Gottes“ auszuloten. Das Werk, findet er, sei keinesfalls „als eine epische Schlacht zwischen Christen und Moslems“ zu verstehen. Vielmehr wolle er es als ein „metaphorisches Werk, das von Schuld und Egoismus erzählt“, fassen und vermitteln. So erzählt Negrin, Regisseur auch der Bonner Thais, den historischen Plot, ohne ihn zu deuten. So wird der Bombast an religiösen Symbolen nicht angetastet, bleiben die reichlich strapazierten Gebete und Berufungen auf Jerusalem, Paradies und Ort der kollektiven Erlösung, völlig unkommentiert. Die semi-historisierende Ausstattung des Gespanns von Bühnenbildner Paco Azorín und Kostümbildner Domenico Franchi erstarrt in einer merkwürdigen Unbestimmtheit, die auch durch die Video-Installationen im 3D-Stil nicht wirklich aufgebrochen wird.
Schade, fast schon eine Vergeudung. Ansätze für Stellungnahmen bietet das Drama nämlich reichlich. Die mit Mistgabeln herumfuchtelnden Horden der Kreuzzügler wirken nach der Einnahme Jerusalems reichlich lächerlich. Gewollt? Gaston, der Vicomte de Béarn, Gefangener des Emirs von Ramla, ersticht seinen Bewacher in scheinbar aussichtsloser Lage. Ein Kommentar zur Situation gegenwärtig in Syrien, wo viele junge Männer nicht kämpfen, sondern fliehen? Der martialisch agierende Gesandte des Papstes, Adhémar de Monteil, zieht sich einmal halb liegend, halb gebückt in die seitlichen Kulissen zurück, als wolle er, die Truppen nicht mehr erreichend, resignieren. Eine Geste von Bedeutung?
Völlig anders verhält es sich bei der musikalischen Dimension dieses archäologischen Kraftaktes. Grandios gelingt Willi Humburg, dem Dirigenten des Beethoven-Orchesters Bonn, schon der musikalische Einstieg. Ein einfühlsames Orchestervorspiel von gerade einmal vier Minuten baut sich mit Pastelltönen auf, während Wegzeichen einer christlichen Erlösungsutopie auf den Bühnenvorhang projiziert werden: Inferno, Vorhölle, Hölle, Himmel und ähnliches mehr. Nach ein paar Takten Rezitativ finden sich Sopran und Tenor, Hélène und Gaston, in einem charmanten Duettino, das ihre Liebe rühmt. Das anschließende morgendliche Angelusläuten fungiert als Klangteppich für das Salve Maria, in dem Hélène und ihre Vertraute Isaure eine Zukunft jenseits von Hass und Zerstörung beschwören. Diese Stimmung wird von einem großen Chor verstärkt, der das kreiert, was unter der Grand opéra Mitte des 19. Jahrhunderts zu verstehen ist. Ein großes orchestrales Opernkino nimmt seinen Lauf, die frankophilen subtilen Passagen Verdis ebenso treffend wie den Pathos der Heroen jedweder Provenienz. Sind die Musiker des Orchesters in Bestform, so sind es der Chor und der Extrachor des Theaters Bonn unter seinem neuen Leiter Marco Medved nicht minder. Superb!
Aber auch die musikalische Leistung entbehrt der Einschränkung nicht. Das Produktionsteam hat sämtliche Ballettnummern gestrichen, also jene Zugeständnisse, die Verdi in seiner Schöpfung alla francese eingehen musste wie vor oder nach ihm seine Zeitgenossen Meyerbeer, Rossini und Wagner in ihren Kompositionen und Adaptionen für Paris. Es hat etwas von Absurdität, sich einerseits für die Rarität, das Abseitige bewusst zu entscheiden, andererseits aber auf das Spezifische, das Genreprägende zu verzichten.
Das Premierenpublikum nimmt diese Auslassung augenscheinlich nicht übel, ergötzt sich indes an den ausgezeichneten Leistungen des Sängerensembles. Der Tenor Sébastien Guèze als Gaston, schon in Bonns Hoffmanns Erzählungen ein beeindruckender Titelheld, gewinnt das Auditorium einmal mehr mit seiner lyrisch ausgefeilten wie steigerungsfähigen Stimme. Er harmoniert zudem prächtig mit der Hélène der Anna Princeva. Vielversprechend bereits als Teresa in der Bonner Produktion von Benvenuto Cellini, besticht sie jetzt nicht nur stimmlich, sondern auch als Aktrice, der die Regie einiges abverlangt. Überstrahlt werden beide, wenn überhaupt, von Franz Hawlata als Roger, dem Bruder Gastons. Der in den großen Häusern auf der Welt gefragte und gefeierte Bass lässt seine an Strauss und Wagner geschulte hohe Professionalität verströmen. Formidabel das Volumen seiner Stimme und die ausgefeilte Mimik seines Spiels – ein großes Erlebnis! Csaba Szegedi als Graf von Toulouse und Giorgos Kanaris als Emir von Ramla gestalten ihre Partien mit Engagement und dem Gefühl für Verdis Kantilenen. Priit Volmer arbeitet sich einmal mehr an seiner Rolle ab, dem Legaten des Papstes. Die weiteren Akteure, Christian Georg, Christian Specht, Egbert Herold, Nicholas Probst und Brigitte Jung als Isaure komplettieren das insgesamt großartige sängerische Tableau.
Das Publikum, schon nach Ouvertüre und auch unterwegs immer wieder zu Beifall aufgelegt, feiert alle Akteure mit Vehemenz und Stehvermögen. Allen voran den Kapellmeister Humburg, der sich, wie erkennbar ist, bis zur Erschöpfung engagiert hat. Das Theater Bonn hat sich, beginnend mit Giovanna d´Arco, aufgemacht, in einer ganzen Serie Neubefragungen früher Verdi-Kompositionen zu unternehmen. Jérusalem ist hier eine Zwischenstation von eigenem, wenn auch nicht bleibendem Wert. Die Richtung stimmt, der Kompass ist justiert. Weiteres mag sich ereignen.
Ralf Siepmann