Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Im Schtetl der fröhlichen Schwermut

ANATEVKA
(Jerry Bock)

Besuch am
13. März 2016
(Premiere)

 

 

Theater Bonn

 

Nein, Pausengespräch Nummer eins ist Anatevka im Foyer und den Wandelgängen des Hauses am Boeselagerhof erkennbar nicht. Wieviel „Dunkeldeutschland“ wird sich wohl in den drei Landtagwahlen an diesem Sonntag manifestiert haben? Das fragen sich viele Premierenbesucher mit ihren gezückten Smartphones. Wie ist der Kampf der beiden Aspirantinnen um die Macht in Mainz ausgegangen? Im Grunde ja ein veritables Opernthema vom Kaliber eines Shakespeare-Stücks mit der Musik Verdis. Es bilden sich Klübchen und Grüppchen, in lebhaften Diskussionen verfangen. Verständlich all das gewiss und verzeihlich erst recht, zumal ganz nah am politisch-historischen Kontext der Geschichte auf der Bühne.

Womöglich hat der Student Perchik gegen Ende des fast zweistündigen ersten Teils der Aufführung sogar noch zur Politisierung des Abends beigetragen. Die Welt sei in einem tiefen Umbruch begriffen, große Umwälzungen stünden bevor, versucht der Vorbote revolutionärer Zeiten seiner innig geliebten Hodel klarzumachen. Perchik ist in der Dorfgemeinschaft irgendwie ein Außenseiter, aber vor allem ein Exponent einer Generation, die nicht wie die meisten Bewohner von Anatevka fatalistisch einfach hinnimmt, sondern verändern will. Er ist wild entschlossen, mit der drittältesten Tochter des Milchmanns Tevje im fernen Sibirien ein neues Leben aufzubauen. Perchik hat er erkannt, dass es im jüdischen „Schtetl“ Anatevka des Jahres 1905 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine keine Zukunft geben wird. Weder für die gleich zu Beginn beschworene Tradition der religiös fundierten Lebensweise. Noch für die so einfachen wie liebenswerten ostjüdischen Kleinbürger, die es verstehen, sich ungeachtet der Pogrome im zaristischen Russland ihren Beharrungswillen, ihre Kultur und nicht zuletzt ihren Humor zu bewahren.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Es dürfte einerseits etliche Gründe geben, Jerry Bocks Musical nach der Erzählung Tevje, der Milchmann von Scholem Aleichem von 1964 heute gerade nicht auf die Bühne eines Opernhauses zu bringen. Das in Zusammenarbeit mit dem Autor Joseph Stein und dem Songtexter Sheldon Harnick entstandene Stück um einen armen pater familias, der vom Glück des Reichtums und von der merkantil erfolgreichen Verheiratung seiner Töchter träumt, dabei Schritt für Schritt an Autorität verliert, hat dramaturgische Schwächen. Sie sind eine Folge häufig überlanger und nur bedingt sangbarer Textpassagen, die auch die deutsche Übersetzung von Rolf Merz und Gerhard Hagen nicht zu mildern vermag. Bocks Komposition ist zudem eine willkürliche Mixtur ganz unterschiedlicher Stile, wirkt immer wieder arg konstruiert und kann zudem einen Mangel an musikalischen Highlights nicht verbergen. Zugeben: If I Were a Rich Man, Tevjes Welthit, zündet bei jedem Publikum dieser Welt, so auch in Bonn. Letztlich ist aber doch wohl ein Ohrwurm recht wenig für ein Theaterstück, das eben Musical sein will, quasi Operette mit den Hollywood-seligen Mitteln des 20. Jahrhunderts. Frederick Loewes acht Jahre früher entstandenes Musical My Fair Lady beispielsweise ist dagegen geradezu eine Fundgrube an musikalischen Einfällen.

Foto © Thilo Beu

Andererseits, und damit ist schon der Kern von Tevjes Lebensphilosophie der Abwägung gestreift, dürfte es aber auch eine ganze Reihe von Gründen geben, das Schtetl eben doch im Musiktheater unserer Tage wieder auferstehen zu lassen. Der Stoff und seine Umsetzung muten arg old fashioned an, erscheinen ideologisch überzuckert von einer zionistischen Erlösungsidee made in USA. Doch ist nicht gerade im Nachkriegsdeutschland die Vorstellung von der Alltagskultur des Judentums weitgehend verloren gegangen? Und ist nicht jede sinnlich packende Begegnung mit dem Exodus zu begrüßen, die die elementarste Erfahrung des „auserwählten Volkes“ über Generationen bestimmt hat und bis in die Gegenwart bestimmt? Auf die Vermittlung dieser beiden Motive – Milieu und Verfolgung – hat Regisseur Karl Absenger, ein Musicalspezialist, seine Bonner Inszenierung ausgerichtet, ohne dabei den Stoff durch Addition aktualisierender Bezüge weiter aufzuladen. So entsteht – eine kluge Entscheidung – ein naturalistisches Theater, das über Bilder die Köpfe und die Schicksale der Protagonisten die Herzen erreicht.

Karin Fritz, Ausstatterin der Bühne, hat für die Publikumsbegegnung mit dem jüdischen Milieu vielerlei Holz aufgeboten. Rustikale Bretter, in alle Richtungen verlegt, rufen den Eindruck einer Idylle der einfachen Behausungen hervor, geben mal einem Wohn-, mal einem Schlafzimmer oder einem Wirtshaus Kontur. Aus einfachem Holz ist auch das Gestühl gefertigt, das sich für das Essen zum Sabbat eignet wie auch für die Tafel anlässlich der Hochzeitszeremonie mit Tevjes Tochter Tzeitel im Mittelpunkt. Und aus rohem Holz ist natürlich auch der Milchkarren, den Tevje schieben muss, weil das Pferd lahmt. Ein symbolisches Aperçu zudem: der Birkenhain auf dem Bühnenhintergrund. Milieuecht agiert auch die Dorfgemeinschaft. Man singt, spielt und tanzt, die Männer in langem Mantel mit hervorlugendem Tillit, mit zauseligen Bärte und allerlei Kopfbedeckung bis hin zur Kippa an Feiertagen. Die Frauen tragen Kopftücher, lange Kleider und Schürzen. Licht spielt im Übrigen eine wichtige Rolle. Friedel Grass, der Lichtdesigner, gibt den Nachtszenen, etwa Tevjes Traumerzählung, mit wechselnden Blautönen eine schaurig-schöne, gar zirzensische Note.

Dreh- und Angelpunkt jedweder Inszenierung dieses Musicals ist die Besetzung der Titelrolle. In dem Wiener Gerhard Ernst, seit mehr als 35 Jahren Tevje an den Bühnen Europas, hat die Bonner Aufführung ihren Fixpunkt und ihr Fundament. Der 70-jährige Schauspieler Ernst, an der Burg wie der Volksoper eine feste Größe, ist zwar dem Sänger Ernst weit überlegen. Sein sonorer, auch in der Höhe weit ausholender Bass ist indes voll und ganz in der Lage, das weite gesangliche Spektrum dieses Milchmanns auf dem schmalen Grat zwischen Melancholie und Sanguinik, zwischen Gottergebenheit und Aufbegehren zu treffen und zu gestalten. Zudem ist sein Spiel großartig, bisweilen köstlich. Pars pro toto beweist das Ist es Liebe?, Tevjes witzig-ironisches Duett mit seiner Golde. Anjara I. Bartz ist die Frau an seiner Seite mit der Rigidität der Herrin im Hause, aber auch der verborgenen Fähigkeit zu Innigkeit und tieferem Empfinden.

Überhaupt agiert das Sängerensemble, technisch unterstützt vom Sounddesigner Stephan Mauel, auf exzellentem Musical-Niveau. Sarah Laminger als Tzeitel, Maria Ladurner als Hodel, schließlich Lisenka Kirkcaldy als Tevjes dritte Tochter Chava präsentieren sich von ihrer besten Seite. Barbara Teuber ist als Oma Tzeitel, Goldes verstorbener Großmutter, in der Traumszene schlicht eine Wucht. Unter den Sängerdarstellern ragen Martin Tzonev, der den Fleischer Lazar Wolf eindrucksvoll verkörpert, Christian Georg als Schneider Mottel Kamzoil, Jeremias Koschorz als Fedja und Dennis Laubenthal als Perchik hevor. Ein Unikum ist Michael Seeboth, der den Wirt Motschach spielt. Der Pressesprecher des Bonner Hauses gibt ihm so gekonnt und milieuecht Profil, dass sich womöglich die Frage eines Wechsel ins eigentliche Fach noch einmal stellen könnte. Ihr Metier haben in jedem Fall die formidablen Tänzer gefunden, für die Vladimir Snizek eine stimmige Choreographie geschaffen hat. Ihr Flaschentanz provoziert im Saal manch Oh und Ah. Überzeugend ferner Kinder- und Jugendchor, von Ekaterina Klewitz einstudiert, sowie Chor des Theaters Bonn, den Marco Medved in Hochform gebracht hat.

Das auf Anatevka-Bedarf reduzierte Beethoven-Orchester Bonn residiert seitlich unter den Brettern des Bühnenbodens platziert, gleichsam auf halbem Grund. Unter der musikalischen Leitung von Stephan Zilias zeigt es sich gleichwohl in ganzer Größe. Mit Enthusiasmus meistern die Musiker die schon an Ballroom-Sound reichenden Tutti-Passagen. Schlicht berückend fallen die Solo-Sequenzen aus, die von der Klarinette herbeigezauberten Passagen im Klezmer-Stil, die von der Violine klagend und schmachtend vorgetragene Melodie des Fiddlers on the Roof, wie das englisch-sprachige Original benannt ist. Dieser Geiger übrigens, Tevjes surrealer Antipode, thront anfänglich in einer Seitenloge über dem Parkett. Im Finale dann erscheint der Schauspieler mit roter Mütze auf der Bühne. Die Menschen von Anatevka sind wieder einmal aufgebrochen, nach Amerika, nach Palästina, nach Polen. Sie hinterlassen Leere und Bangen, Wehmut im Theater. Was bleibt, ist diese Melancholie, die kleine Schwester ihres großen Bruders Humor.

Das Publikum feiert Ensemble, Musiker und das Regieteam frenetisch und anhaltend. Es bilanziert so einen Theaterabend, der in Erinnerung bleiben wird und Gespräch stiftet. Nur gut, dass im Bonner Spielplan für die nächsten Wochen ausdrücklich Vorstellungen für Familien ausgewiesen sind. Anatevka ist mehr als ein Hit, ganz sicher, und wohl auch mehr als sein in die Jahre gekommener Ruf. Man überzeuge sich.

Ralf Siepmann