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Wir sind viele” lautet das Motto der aktuellen Spielzeit am Theater Bielefeld. Das dürfte sich bei der aktuellen Neuinszenierung von Verdis Macbeth nicht nur auf die vielen Hexen, in diesem Fall Prostituierten oder Tänzerinnen beziehen, die zu Beginn der Oper ein paar gewaltbereite Männer das Fürchten lehren. Es sind auch viele Parteien, die ein Auge auf die Krone von Schottland geworfen haben, die von dem sterbenden Macbeth später verflucht wird. Damit wirkt der Shakespeare-Stoff in der Inszenierung von Balázs Kovalik wie ein kleiner Vorläufer von George R. Martins Das Lied von Eis und Feuer oder besser bekannt als Game of Thrones. Doch Kovalik und seine Ausstatter Hermann Feuchter und Angelika Höckner bleiben nicht im finsteren Mittelalter, sondern landen irgendwo im nicht näher definierten Heute. Die vielseitigen Kostüme von Höckner machen es deutlich.
Wenn die Hexen in Strapsen und Korsagen vor einer roten Mini-Windmühle einen schön choreografierten Tanz hinlegen, hat man noch Angst, dass die Oper in einer Karikatur endet. Auch wenn Lady Macbeth, kaum, dass ihr Mann aus dem Bett ist, direkt den Feldherren Banquo empfängt, der an der Demontage von Macbeth maßgeblich beteiligt ist, wähnt man sich als Zuschauer einer Seifenoper am Vorabend. Gerade ist Banquo tot – was in dieser Inszenierung ein schwieriger, nicht näher definierter Zustand ist – wirft sich die Dame Macduff in den Arm. Das Spiel um die Krone wird als Zustand beschrieben. Darin haben Sex und Drogen ebenso ihren Platz wie ein Flüchtlingsdrama und eine Ehekrise während der Nachtwandler-Szene der Lady.
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Schubladendenken könnte man in dieser Inszenierung höchstens und nur auf den ersten Blick dem Bühnenbild von Feuchter unterstellen. Aus seiner hässlichen Wellblech-Schräge, die die gesamte Bühne diagonal teilt, fahren einzelne szenenerklärende Elemente wie etwas zu geräuschvolle Schubladen in die Bühne hinein. Das nutzt sich über die ersten beiden Akte ab, aber der dritte Akt hält dann noch ein paar Überraschungen parat. Grandios etwa, wie bei der im Drogenrausch stattfindenden Anrufungen der Geister Banquos Kinder aus dem Sofa klettern, auf dem Banquo mit der Lady kuschelt.
Ebenso wie die Regie wartet auch die musikalische Seite mit einigen Überraschungen auf. Alexander Kalajdzic passt sich der Geschichte verblüffend lautmalerisch an. Die Bielefelder Philharmoniker baden förmlich in kleinen Details, ohne den dramatischen Fluss vermissen zu lassen. Pausen werden zum cliffhanger, langsame Passagen zum Thriller, rasante Steigerungen drücken die Hörer in die Sessel. Wenn die Philharmoniker das noch ein Fünkchen sauberer spielen, ist das Ergebnis perfekt. Großes Lob gebührt auch dem von Hagen Enke einstudierten Bielefelder Opernchor, verstärkt durch den Extrachor. Massiv im Spiel auf der Bühne eingebunden, singt er zum einen sehr schön, zum andern auch sehr differenzierend. Giftig, geheimnisvoll ertönen die Hexen, entschlossen düster die Mörder und Soldaten und matt die Flüchtlinge. Stark!
Sehr individuell auftretend, fügen sich starke Solisten zu einem homogenen Ensemble zusammen. Angefangen bei den beiden Tenören: Max Friedrich Schäffer ist ein solider Malcolm. Sein Kollege Daniel Pataky hat als Macduff ungleich mehr zu singen, und das gelingt ihm auch hervorragend. Yoshiaki Kimura hat den perfekten Bass für den Banquo, bleibt aber darstellerisch ein bisschen das Düstere schuldig, dass die intrigante Person in dieser Inszenierung hat. Das Ehepaar Macbeth mordet trotz angesagter Indisposition mit Bravour. Soojin Moon Sebastian hört man die Erkältung in der etwas geschliffenen Tiefe an. Trotzdem: Ihre Lady ist genial. Sie hat Biss, sie kann auch zuweilen etwas hässlich singen, sie kann artikulieren. Evgueniy Alexiev klingt da schon deutlicher etwas kurzatmig und auch geschwächter. Ein Einspringer soll im Publikum sitzen, hört man in den Pausengesprächen. Benötigt wird er nicht. Alexiev ist nicht nur optisch ein idealer Macbeth, sondern weiß auch stimmlich die zerrissene Figur mit Ausdruck zu erfüllen.
Das Publikum applaudiert laut und lange. Unmut über eine etwas andere Inszenierung hört man keinen, so wie es auch bei der Premiere in der Woche zuvor gewesen ist. „Wir sind viele“ – das scheint sich auch auf die Qualität der gelungenen Produktionen am Theater Bielefeld zu beziehen. Schön, dass Mut und Klasse auch in diesem Fall zum Erfolg führen.
Rebecca Hoffmann