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Die Weltgeschichte wie die Literatur bieten zahlreiche Beispiele dafür, dass sich ältere, nicht immer reifere Männer in junge Knaben verlieben, dabei vermeintlich ein neues Leben, sich neu finden und schließlich daran zu Grunde gehen – wie der verkannte Schriftsteller Gustav von Aschenbach als tragische Figur in Benjamin Brittens Oper Death in Venice, die das Theater Bielefeld jetzt erfolgreich auf die Bühne bringt. Der jungen Regisseurin Nadja Loschky, in Bielefeld keine Unbekannte mehr, gelingt es, die zu den Spätwerken von Britten gezählte Oper mit viel Spannung und Ausdruckskraft auf die Bühne zu bringen.
Dem Schriftsteller Gustav Aschenbach begegnet ausgerechnet in einer Schaffenskrise, in der er verzweifelt nach Stoffen, Ideen, nach seiner Sprache sucht, ein undurchsichtiger Fremder, der ihn schließlich zu einer Venedig-Reise animiert. Auf die Begegnung mit La Serenissima setzt Aschenbach all seine Hoffnung. Ausgerechnet in der Hotellobby begegnet er dem jungen Polen Tadzio, der ihn begeistert und verwirrt. Als ihn dann auch noch eine Venezianerin mit frühreifen Erdbeeren betört, gibt Aschenbach seine Versuche auf, sich und seine Gefühle noch rational kontrollieren zu wollen und vertraut seinen Emotionen, die ihn immer näher zu Tadzio bringen.
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Doch das Schicksal hat andere Pläne und schickt der Serenissma die Cholera, die nun – ob tatsächlich oder vermeintlich – als drohendes Unheil über allen Protagonisten schwebt. Aschenbach sieht sich selbst und seine neuen Lebenspläne bedroht, verfällt in „hoffnungslose Obsessionen“ und sieht sich schließlich sich widersprechenden Ratschlägen der Götter Apollo und Dyonisos gegenüber. Immer heftiger hadert der Dichter mit sich selbst, pendelt zwischen Lustwünschen und dem verzweifelten Versuch, sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen und wieder zu schreiben. Doch das gelingt ihm weder in der Hotelbar, noch am Lido, noch in der Gesellschaft wechselnder merkwürdiger Gesellen. Als er endlich dem Rat des „lust- und todbringenden Gottes des Rausches“, Dyonisos, folgen will, ist es schon zu spät. Tadzio ist abgereist und Aschenbach wird Opfer der überreifen, weil vergifteten Erdbeeren und seines entschwundenen Lebenswillens, „ein leichtes Opfer für den Tod“.
Librettistin Piper hat sich Mühe gegeben, dieser Geschichte keine „reale“ Note zu verleihen. Ziemlich „frei“ nach Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig schuf sie eine Textvorlage für Benjamin Britten, die es ihm erlaubt, der Geschichte stark surreale Züge zu geben und große Teile dieser Oper über die Musik zu erzählen. So überrascht Britten mit häufigen und längeren wortlosen Passagen, in denen nicht Sänger eine Geschichte erzählen, sondern die Instrumente Klangteppiche ausbreiten und emotionale Räume füllen, mal harmonisch, mal herausfordernd dissonant, selten Tutti oder im Forte. Auf lange, romantisch-harmonische Passagen warten die Zuhörer vergeblich. Zurückhaltend, aber eigenständig erzählt die Musik eine nicht wirkliche Geschichte.
Die Bielefelder Philharmoniker unter Pawel Poplawskis Leitung kommen mit dieser Rolle bestens zurecht, die Zuhörer haben allen Grund, sich über ein durchsichtiges, klar akzentuiertes und rhythmisch modernes Klangbild zu freuen, in das sich der Opernchor bestens einpasst.
Mit Alexander Kaimbacher ist die Rolle des Aschenbach stimmlich und darstellerisch hervorragend besetzt. Mit voller Tenorstimme zeichnet er seine verzweifelnde Suche nach einem neuen (Schreib-)Anfang ebenso wie seine warme Zuwendung zu dem jungen Polen oder seine wachsende Orientierungslosigkeit in der von Krankheit befallenen Stadt. Gieogij Puchalskis tänzerische Ausdrucksmöglichkeiten geben der Figur des Tadzio viel jugendliche Unbekümmertheit, sie reichen von der tiefen eigenen Zerrissenheit bis zu akrobatischen Tanzeinlagen. In zahlreichen Rollen, vom rätselhaften Reisenden über den gewitzten Coiffeur bis zur Stimme des Dyonisos überzeugt der Bariton Evgueniy Alexiev mit Ausdrucksstärke und Erfahrung. Countertenor Clint van der Linde tritt als Priester nur selten in Erscheinung. Ob als verführerische Erdbeerverkäuferin oder Straßensängerin, Nienke Ottens Ausdrucks- und Spielmöglichkeiten sind vielfältig.
Loschky greift in ihrer Inszenierung den surrealen Grundtenor des Librettos mit viel Fantasie auf. In einem kühlen, meist weißen Bühnenbild lässt sie die Figuren agieren, deren häufige Verwandlungen nicht nur die Kleidung betreffen. Ein kaltes, oft weiß-blaues Licht hält die Figuren unterkühlt, ein ständiger Schwarz-Weiß-Kontrast unterstützt diesen Eindruck. „Normale“ Kommunikation oder Bewegung findet kaum statt. Auch die auftretenden Tänzer tragen dazu bei, die Aktionen zu „entrücken“ und sie in eine surreale Welt zu versetzen. Ulrich Leitner nutzt eine mehrfach gegliederte Drehbühne, um die knapp angedeuteten Spielplätze schnell zu wechseln, Gabriele Jaenecke gibt den Figuren zeitgemäße, teils provozierende Kostüme, Ralf Scholz´ Lichtregie liefert eine Atmosphäre ohne Wärme.
Es ist schon überraschend, dass sich auch moderne Vertreter des Musiktheaters immer wieder und neu daran geben, die Aussage zu prüfen, ob die Oper als Kunstform noch zeitgemäß sei: Nadja Loschky und das Theater Bielefeld geben eine aktuelle, eine überzeugende Antwort: Ja, sie lebt – sogar im Tod in Venedig. Ein begeistertes Premierenpublikum schließt sich diesem Urteil mit kaum endendem Beifall für Solisten, Musiker und das Regieteam gern an.
Horst Dichanz