Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
IL RITORNO DI TOBIA
(Joseph Haydn)
Besuch am
4. Juni 2016
(Einmalige Aufführung)
Es macht schon neugierig, was das für ein Werk ist, was als „seltenst gespieltes Oratorium“ von Joseph Haydn angekündigt wird – zuletzt in Berlin angeblich im Jahre 1777. Damals war es brandneu, erst zwei Jahre zuvor, 1775 in Wien uraufgeführt und als längstes und ambitioniertes Werk des jungen Haydn angepriesen. Dazu noch mit einem Libretto von Giovanni Gastone Boccherini, einem älteren Bruder des Komponisten Luigi Boccherini, steht es an der Schwelle der geistlichen Oper.
Erzählt wird die Geschichte aus dem Buch Tobit im Alten Testament vom blinden jüdischen Stammesvater, der, im Gegensatz zu seiner Frau Hanna, daran glaubt, dass der geliebte Sohn Tobia noch am Leben ist, obwohl es seit Jahren keine Nachricht von ihm gibt. Der erste Teil endet mit der Rückkehr von Tobia mit Frau Sara und mit einem Rezept, um dem Vater das Augenlicht wieder zu schenken. Der zweite Teil steht im Zeichen der Heilung der Blindheit des Vaters. Das Rezept ist eher ein Ritual, das die Galle eines Walfisches, ein kleines Hündchen als Symbol des treuen Weggefährten, den Erzengel Raffael und die Überzeugung, dass der Glaube an Wunder und der Glaube an die Vernunft einander nicht zwangsläufig ausschließen müssen. Eine Parabel über die damals angehende Philosophie der Aufklärung, dramatisch von Haydn und Boccherini umgesetzt: Das Licht der Vernunft soll dem Vater durch den Sohn gebracht, die alte Zeit des Wunderglaubens von der neuen Vernunftepoche abgelöst werden. Aber die neue Zeit braucht auch ihre Rituale – eben die in die Augen eingetröpfelte Fischgalle. Es erweist sich als eine überaus schmerzhafte Prozedur, und der Vater beklagt das grelle, stechende Licht beim ersten Versuch, die Augen aufzumachen. So groß sind die Schmerzen, dass er lieber im Dunkeln bleiben will, als das Licht ertragen zu müssen. Diese Empfindungen werden in einer eindrucksvollen Arie vom Vater ausgedrückt. Ist die Heilung gescheitert? Mitnichten, die kluge Schwiegertochter Sara befolgt den Rat des Boten Azzaria und bindet die Augen mit immer helleren Schleiern, damit sich die Augen an die Helligkeit, an die neuen Weltansichten, peu à peu gewöhnen kann. Happy End – der Vater kann wieder sehen.
Musik | |
Gesang | |
Regie | |
Bühne | |
Publikum | |
Chat-Faktor |
Zu Unrecht ist dieses Oratorium selten gespielt. Ja, es braucht einen großen Chor und gute Solisten, ist mit rund zweieinhalb Stunden eventuell etwas zu lang mit seinen Rezitativen, aber ist so überraschend anders als die beiden anderen populären Oratorien von Haydn – Die Jahreszeiten und Die Schöpfung – dass es in das Repertoire eines jeden großen Chorensembles gehört. Das Oratorium strotzt nur so von Arien im neapolitanischen Stil und gewaltigen Chornummern.
Die Sing-Akademie zu Berlin, immerhin im Jahre 1791 gegründet und als ältester gemischter Chor der Welt anerkannt, hat dieses Werk ausgesucht, um seinem Hauptchor für geschulte Laiensänger eine ebenbürtige Herausforderung zu setzen. Diese Herausforderung erfüllt der etwa 80 Stimmen umfassende Chor bestens, unterstützt von der erhebenden Akustik des Saales. Die Elisabethkirche – ein im Zweiten Weltkrieg stark zerstörtes Schinkel-Gebäude – scheint für solche Aufführung prädestiniert zu sein: Der hohe Bau mit den schlichten, unverputzten, roten Ziegelwänden und einem modernen Glasdach passt in die heutige minimalistische Ästhetik.
In der Tradition der „Tableaux Vivants“ – lebendige Bilder – setzt der programmatische Leiter und Dramaturg der Sing-Akademie, Christian Filips, szenische Akzente und stellt historische Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts zum Thema wie Die Heilung des Tobias von Bernardo Strozzi um 1635 nach. Durch den besonders kleinen Podest, der als Bühne dient, sind diese Bilder allerdings nur für ein begrenztes Publikum sichtbar. Im Gegensatz, die akrobatischen Leistungen des Predigers – ausdrucksreich der Schauspieler Maximilian Brauer – der seine „Kanzel“ – vermutlich der ehemalige Zugang zu einer Empore – in schwindelerregender Höhe auf einer handelsüblichen Aluminium-Leiter erreichen muss.
Die allesamt jungen Solisten des Abends sind aufeinander abgestimmt. Allen voran sei die Sara von Hanna Herfurtner zu erwähnen, die mit ihren geschmeidigen Koloraturen der dankbaren Rolle der wohlwollenden Schwiegertochter Charakter gibt. Arttu Kataja als Vater Tobit wird sicherlich in die große Tradition der finnischen Bässe hineinwachsen – sein samtiges Timbre lässt es erahnen. Benedikt Kristjánsson bringt seinen sehr hellen und musikalischen Tenor zur Partie des guten Sohnes. Vanessa Barkowski verkörpert die Mutter Anna mit ihrem sanften Alt. Auch Daniel Noack – Sopran und Knabensolist des Staats- und Domchores – überzeugt in seinen Rollen als Bote Azaria und Erzengel Raffael.
Geleitet wird der von Svenja Andersohn und Caspar Wein einstudierte Chor von seinem Musikdirektor, Kai-Uwe Jirka, der auch die fein gestimmte Kammerakademie Potsdam dirigiert. Chor und Orchester sind von einem vitalen und lebendigen Musizierstil geprägt, sicherlich auch von der hervorragenden Akustik des Saales unterstützt. Gesungen wird in der Original-Sprache Italienisch, die Rezitative auf Deutsch. Dennoch war es gut, den Text im Programm zur besseren Verständlichkeit abgedruckt zu haben.
Großer Beifall für alle Mitwirkenden am Ende. Schade, dass es vorerst nur bei dieser einen – ausverkauften – Vorstellung bleibt. Es ist zu hoffen, dass es weitere Aufführungen geben wird, eben weil es sich um ein unbekanntes Werk handelt, das wirklich hörenswert ist.
Zenaida des Aubris