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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Monika Rittershaus

Aktuelle Aufführungen

Die globale Matrix der Nacht-Erlösten

TRISTAN UND ISOLDE
(Richard Wagner)

Besuch am
19. März 2016
(Premiere)

 

 

Festspielhaus Baden-Baden

So wäre denn alle furchtbare Tragik des Lebens nur in dem Auseinanderliegen in Zeit und Raum zu finden: da aber Zeit und Raum nur unsre Anschauungsweisen sind, außerdem aber keine Realität haben, so müsste dem vollkommen Hellsehenden auch der höchste tragische Schmerz nur aus dem Irrtum des Individuums erklärt werden können: ich glaube, es ist so!“ Das schreibt Richard Wagner 1860 seiner Gönnerin und heimlichen Liebe Mathilde Wesendonck. Seit den 1850-er Jahren hat sich der Komponist mit dem Buddhismus befasst, wesentlich in der Auseinandersetzung mit Arthur Schopenhauer. Wagner berauschte sich an der Idee der Aufhebung des Ich. Von der „Einheit alles Lebenden“, vom Eins-sein und der Ganzheit, von der Überwindung des Gegensatzes von Diesseits und Jenseits. Tristan und Isolde, 1865 in München uraufgeführt, wird zum Vorboten einer radikal „Neuen Musik“, für den Komponisten Grenzüberschreitung und Vollendung zugleich.

2011 richtet Willy Decker bei der Ruhrtriennale seine Inszenierung von Wagners Gesamtkunstwerk strikt an der buddhistisch-spirituellen Sichtweise aus. Zusammen mit dem Bühnenbild Wolfgang Gussmanns erzeugt er in der Bochumer Jahrhunderthalle ein Regie-und Raumerlebnis, das als Glücksfall in Erinnerung bleibt. 1983, um an ein zweites Beispiel für ein originäres Regiekonzept zu erinnern, entwickelt der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle für Bayreuth eine Deutung des auf keltischen Sagen beruhenden Liebes- und Erlösungsdramas, das einige Kritiker damals in den Rang eines Tristan für die Ewigkeit heben. Isoldes Ankunft im dritten Aufzug vor der Burg Kareol erlebt der totgeweihte bretonische Ritter als Fiebertraum. Ihre Blicke, der Schlüssel der Verwandlung von Hass in Liebe, das Geheimnis des Verschmelzens von Todes- und Erlösungssehnsucht, treffen sich nicht, nicht ein einziges Mal.

„Man wird“, hat Musikkritiker Jürgen Kesting gesagt, „mit dem Tristan nicht fertig.“ Ist es so gesehen von vornherein zu weit gegriffen, von der Eröffnungsproduktion der Baden-Badener Osterfestspiele 2016 unter dem Markenzeichen der Berliner Philharmoniker und ihres musikalischen Leiters Simon Rattle eine neue Deutung zu erwarten?

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Zumal mit Regisseur Mariusz Treliński eine Koryphäe an die Oos geholt worden ist, deren bisherige Arbeiten für das Theater stark von Filmtechniken inspiriert sind und deren Bühnenrealisierung von Tschaikowskys Jolanthe 2009 in Baden-Baden Furore machte. Die Frage stellen heißt, die Produktions- und Marketingdimension dieser Neuinszenierung in den Blick zu nehmen. Nach den vier Baden-Badener Aufführungen wird die Koproduktion mit der Metropolitan Opera New York, dem Polnischen Nationaltheater Warschau und dem China National Centre for the Performing Arts Peking auch in diesen Musiktheatern zu sehen sein. Verlangt ist demnach eine Matrix des Vermittelns und Interpretierens, die ihr Publikum auf drei Erdteilen finden, gleichsam global funktionieren muss.

Foto © Monika Rittershaus

Ob es solches Konzept ausgerechnet für das Musikdrama der exzessiven Kühnheit geben kann, mag offen bleiben. Treliński unternimmt auch keinerlei Versuch in dieser Richtung. Wenige szenische Ausnahmen fallen da kaum ins Gewicht – etwa die im Schluss des zweiten Aufzugs, als Tristan sich die tödliche Wunde selbst beibringt. In Wagners Dichtung lässt er seine Waffe sinken und Melot den Schwertstreich vollführen. Oder jene im dritten Aufzug, als der Regisseur mit dem jungen Tristan eine zusätzliche Figur einführt. Das Kind wendet sich dem siechen, in einem Hospitalbett ruhenden Tristan zu, was wohl als Geste zu verstehen ist, aber letztlich eine vage Chiffre bleibt. Vielmehr konzentriert und verlässt sich Trelinski mit seinem Inszenierungsteam konsequent auf die Zeichen- und Bilderwelt, die sich aus der tragenden Idee, der Verlagerung des Geschehens auf ein Kriegsschiff, mit wachsender Wirkungsgewalt entwickelt. Die Protagonisten, Tristan und Isolde nicht zuletzt, sind Exponenten einer Welt, in der Verrat und Mord, Brutalität und Erniedrigung selbstverständliche gesellschaftliche Spielregeln sind. Erst durch die radikale Umwertung dieser Werte, die Absage an die Welt und die Sehnsucht nach völliger Loslösung von derselben, das Verlöschen des Liebespaares in der ewigen Nacht der Weltentrückung wird die Utopie einer humanen Alternative denkbar.

Konsequent im Wagnerschen Sinne dominiert über alle drei Baden-Badener Aufzüge hinweg die Nacht, was dem Publikum ein höheres Maß an Konzentration und Disziplin als üblich abverlangt. Weitgehend in schwärzestes Dunkel ist Boris Kudličkas Bühnenbild getaucht, ein Organismus von unterschiedlichen Schiffsräumen, Treppenauf- und -abgängen mit Isoldes Kajüte im Zentrum. Die Video-Projektionen von Bartek Macias schaffen allerlei Raumeffekte, per split screen gar die Illusion der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Handlungen. Meereswogen symbolisieren die Gewalt der Natur, Möwenschwärme die Vergeblichkeit des Tun und Trachtens der Menschen. Taschenlampen der Mannschaften, die König Marke auf seinem Trip begleiten, wirken bereits wie richtige Lichtquellen. Schwarz ist der Prospekt auf dem sich zum Rausch des Vorspiels ein Radarbild auftut, in dessen Kern mit schemenhaften Video-Sequenzen die Kindheitsgeschichte Tristans erzählt wird. Den Radarschirm gibt es dann auch auf der Brücke des Schiffes. Dort führt Tristan, dem der Kostümbildner Marek Adamski eine Offiziersuniform auf den Leib geschneidert hat, das Kommando. Rau ist der Ton, in dem auch Isolde Untergebene anfährt. Sogar ein Revolverschuss ist zu hören, der einem Gefangenen an Bord gilt. Eine Reminiszenz an die Ermordung Morolds?

Wagner nennt sein Werk eine „Handlung“. Diese freilich existiert nicht oder nur kaum an sich, sondern in der narrativen Verbindung von Text und Klang. Von seinem Lager blickt er her – … er sah mir in die Augen … Isoldes Erinnerung an diesen Blitzschlag der Liebe, diese Schlüsselstelle der Selbstfindung des Paares, verlangt nach einer adäquaten Gestaltung, als würde der Blick durch Gesang gegenständlich. Trelińskis Personenregie verfehlt diesen großen Moment, der allein durch die orchestrale Wiedergabe des Blick-Motivs eingefangen wird. Leider kein Einzelfall, wie auch das befremdliche Spiel von Distanz und Nähe im Sehnsuchtsduett des zweiten Aufzugs O sink hernieder, Nacht der Liebe erweist. Der Regisseur, hier ganz dem Film nahe, lässt die Liebenden diese ihre Nacht in einem Kontrollraum beginnen und in der Cocktailbar des Schiffes enden. Bilder müssen auch bei Tristans Wandlung ins Transzendentale herhalten. So erreicht er auf der symbolischen Wanderung durch seine Biographie die vom Feuer zerstörte Holzhütte seiner einstigen Eltern.

Unter Daniel Barenboim haben die Berliner Philharmoniker vor rund 20 Jahren schon einmal einen Tristan in bestechender Qualität auf Tonträger eingespielt. Unter Rattle, ihrem noch agierenden Chefdirigenten, beweisen die Musiker einmal mehr ihre hohe Qualität und Kompetenz, Wagners orgiastische Partitur als sinfonisches Ereignis zu interpretieren. Dabei sind die Streicher schlicht Weltklasse. Aus dem Orchestergraben des Festspielhauses erklingen all die grandiosen hellen Motive und tiefschwarzen, in der Bassklarinette kulminierenden Farben, die dieses Werk der genial-kühnen Chromatik in seinen Rang des Ausnahmephänomens katapultiert haben. Rattle, eher zurückhaltend dirigierend, wie ein Diener an der Kunst, gelingen ganz besonders die lyrischen Passagen, die Pastelltöne, die innigen Verwandlungsmusiken. So werden die 42 unbegleiteten Takte der „traurigen Weise“, die das Englisch Horn dem Hirten angedeihen lässt, allein schon zu einem Erlebnis, das den Atem stocken lässt. Einschränkungen? Ja, auch die gibt es in Maßen, sind wie beim Rosenkavalier im vergangenen Jahr nicht zu überhören. Die Wucht der Philharmoniker erreicht bisweilen ein Maß, das die ohnehin an der Höchstgrenze der menschlichen Stimme agierenden Sänger zu zermalmen droht. Exzessiv ist ja schon Wagners Musiksprache; damit könnte es schon eigentlich sein Bewenden haben.

Große Aufmerksamkeit zieht Stuart Skelton auf sich, der sein Bühnendebüt in der Rolle des Tristans gibt. Keine Frage, der bereits in zahlreichen großen Wagnerpartien bis hin zum Siegmund bewährte australische Tenor gibt der monströsen Figur des „Orpheus des Todes“, wie Kesting sie nennt, souverän und kraftvoll Gestalt und Stimme. Er singt schön und phrasiert großartig, deklamiert nicht wie einst René Kollo und vermeidet die baritonale Tessitura mancher großer Tristan-Sänger der Vergangenheit wie Lauritz Melchior. Nur – warum so restriktiv im Spiel, in der Mimik? Dieser Tristan durch- und erlebt auf seiner Tag-Nacht-Wanderung doch das ganze Gefühlskarussell, das dem Menschen zur Wirklichkeit und dem Dichter zur Sprache werden kann. Skelton liefert hingegen schlicht ab, was sich auch im etwas verhaltenden Beifall des Publikums nach dem Schlussvorhang manifestiert.

Uneingeschränkt hingegen erntet diesen Eva-Maria Westbroek, die unter dem Vorzeichen der Bayreuther Festspiele sowohl durch ihre Isolde in der Marthaler-Inszenierung wie auch durch ihre Absage im Vorjahr zum Begriff geworden ist. Ihr Hang zum vokalen Vibrato scheint sich in den letzten Jahren verfestigt zu haben. Davon abgesehen, zeigt sich die Niederländerin höhensicher, ausdrucksstark und der Entrückung fähig. Ihre Apotheose der Verschmelzung von Eros und Thanatos im Schluss, fälschlicherweise als Isoldes Liebestod bekannt, macht diesen Baden-Badener Abend auf Zeit erinnerlich. Dazu könnten im Übrigen auch Stephen Milling als König Marke und ganz besonders der prächtige Michael Nagy als Kurwenal beitragen. Beide erreichen durch großes vokales Engagement hohes Wagner-Niveau. Sarah Connolly als Brangäne und Roman Sadnik als Melot komplettieren zusammen mit Thomas Ebenstein, der einen jungen Seemann und einen Hirten darstellt, ein Sängerensemble, auf das man sich in New York, Warschau und Peking freuen kann. Dass der Philharmonia-Chor Wien in der Einstudierung von Walter Zeh zu den besten seiner Spezies gehört, bleibe dabei nicht unerwähnt, weil einmal mehr famos bewiesen.

„Wie es fassen…“, stößt Tristan im Liebesduett des zweiten Aufzugs hervor. Das Premierenpublikum hat, wäre dies die resümierende Frage, überwiegend Jubel und Emphase zur Antwort, ganz besonders für die Philharmoniker und ihren beseelt lächelnden Dirigenten. Die Fraktion der Buh-Rufer schafft es auch nach fünf Stunden, sich hinreichend Gehör zu verschaffen – speziell dann, wenn sich das Regieteam zeigt. Kestings Bonmot bekommt so noch eine andere Bedeutung. Draußen, jetzt weit nach 23 Uhr, herrscht natürliche Dunkelheit. Die angemessene Sphäre, der ewigen Melodie nachzusinnen, fern dem wogenden Schwall, wie Isolde singt, „höchste Lust“. Die Matrix des Eins-Seins wenigstens mit der Musik.

Ralf Siepmann