Kulturmagazin mit Charakter
Buch
Zu den Klängen des Walhall-Motivs begrüßt Wotan im Rheingold seine neue Burg und unterstreicht damit den Glauben an seine eigene, ewige Macht. Diese Worte stehen nicht nur sinnbildlich für Wotan und den Ring des Nibelungen, sondern auch für das Gesamtkunstwerk Richard Wagners und die von ihm begründeten Bayreuther Festspiele. Und wenn der geneigte Wagnerianer Oswald Georg Bauers neues Werk Die Geschichte der Bayreuther Festspiele in den Händen hält, dann kommen ihm wohl Wotans Worte automatisch in den Sinn.
Es gibt vermutlich keinen Komponisten auf dieser Welt, über dessen Person, sein Leben und seine Werke so viel geschrieben wurde wie über Richard Wagner. Und über die wechselvolle Geschichte der Bayreuther Festspiele, dem Lebenswerk Richard Wagners, schien alles gesagt zu sein, was der Wagner-Enthusiast und Bayreuth-Besucher wissen möchte. Doch das jetzt vorgelegte zweibändige Werk über die Geschichte der Bayreuther Festspiele von 1850 – 2000 sprengt alles, was bisher an Literatur auf dem Markt gewesen ist. Fast acht Kilogramm schwer ist dieses Werk; knapp 1.300 Seiten und über 1.000 Abbildungen machen dieses enzyklopädische Werk nicht nur zu einem Standardwerk über Richard Wagner und seine Bayreuther Festspiele, sondern es ist selbst ein Gesamtkunstwerk. Inhaltlich, optisch und haptisch. Das ist kein normales Buch, das man in die Hand nimmt. Schon das Gewicht alleine lässt ahnen, welch unfassbare Fülle an Daten, Fakten und Hintergründen hier verarbeitet ist.
Der Autor, Oswald Georg Bauer, ist in der Wagner-Szene nun wahrlich kein Unbekannter. Der promovierte Theaterwissenschaftler war von 1974 bis 1985 wissenschaftlich-künstlerischer Mitarbeiter des Festspielleiters Wolfgang Wagner und seit 1976 auch Leiter des Pressebüros. Von 1986 bis 2008 war er freier Mitarbeiter von Wolfgang Wagner. Von 1986 bis 2004 war Bauer Generalsekretär der Akademie der Schönen Künste in München und ist seit 2005 deren Ehrenmitglied. Neben einer umfangreichen internationalen Ausstellungs-, Vortrags- und Lehrtätigkeit publizierte Bauer zahlreiche Veröffentlichungen zur Theatergeschichte, vor allem über Richard Wagner und die Bayreuther Festspiele.
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Bereits 1982 veröffentlichte Bauer einen umfangreichen Bildband zu Richard Wagners Bühnenwerken von der Uraufführung bis heute. Ein Standardwerk bis heute für das Verständnis der Werke Wagners und ihrer inszenatorischen Wandlungen im Laufe der Geschichte. 1996 veröffentlichte er das Begleitbuch zur Ausstellung Richard Wagner geht ins Theater, auch dieses Werk eng verbunden mit der Lebensgeschichte Wagners und der Bayreuther Festspiele. Diese beiden Bücher entstanden in enger Zusammenarbeit mit Wolfgang Wagner und können heute durchaus als Vorstudien zu dem nun neu erschienenen Gesamtwerk bezeichnet werden. Und es ist die enge und langjährige freundschaftliche Verbundenheit zu Wolfgang Wagner, die die Entstehung dieses Werkes überhaupt möglich machte. Bauer hatte Wagner bereits 1989 das Versprechen gegeben, die Geschichte der Bayreuther Festspiele ausschließlich anhand von Quellen aufzuschreiben. Wagner ernannte ihn quasi zum Hauschronisten Bayreuths. Es schloss sich ein jahrelanges, intensives Quellenstudium an, bei dem nicht nur die Bayreuther Archive auf den Kopf gestellt wurden, sondern alle gängigen Literaturquellen, Presseberichte, Bibliotheken und so weiter durchforstet wurden. Nachfahren von Künstlern, Zeitzeugen und die vielen Richard-Wagner-Verbände wurden ebenfalls befragt und trugen eine Menge Material zusammen. So beinhaltet der 724-seitige Band I über die Geschichte der Bayreuther Festspiele von 1850 – 1950 allein ein 60 Seiten umfassendes Quellenverzeichnis, in dem 5.518 Quellenangaben verzeichnet sind.
Im 568 Seiten umfassenden Band II über die Jahre 1951 – 2000 (mit einem kurzen Anschlusskapitel über die Jahre 2001 – 2015) sind es noch einmal 22 Seiten Quellenangaben mit 1.926 Einzelangaben. Man kann sich kaum vorstellen, wie zeitintensiv das Finden, Sichten, Verarbeiten und Dokumentieren von fast 7.500 Quellen gewesen sein muss, doch gerade dieses penible Quellenstudium macht dieses Werk zu einem Füllhorn an Wissen. Und von der ersten Idee, dem ersten Quellstudium bis hin zur Veröffentlichung zu den Bayreuther Festspielen 2016 ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, auch das sind Parallelen zu Wagners Schaffen. Genau diese Zeitperiode war es, die Wagner von den ersten Ideen eines eigenen Festspielhauses – ursprünglich für München geplant – 1850 bis zur Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses mit der Uraufführung des ersten Ring-Zyklus, beginnend mit dem Rheingold am 13. August 1876, benötigte.
Und so ist Band I natürlich das Hauptwerk und dabei nicht nur die chronologische Aneinanderreihung von gesammelten Daten und Fakten über die Entstehung und Wandlung der Bayreuther Festspiele, sondern gleichzeitig auch ein Zeitdokument deutscher Theatergeschichte, Kultur und Politik. Richard Wagner erwähnte seine Festspielidee erstmalig 1850, und erst 26 Jahre später konnte er sie verwirklichen. Dieser schwierigen Schaffensperiode in Wagners Leben, seiner konfliktbeladenen Beziehung zu König Ludwig II, der als Gönner ein Festspielhaus in München wollte, bis hin zum Scheitern dieses Projektes und den teils chaotischen Verhandlungen über den Bau des Festspielhauses in Bayreuth widmen sich alleine die ersten 50 Seiten des Band I. Sie sind aber wichtig für das Verständnis des Gesamtkunstwerks Richard Wagners. So reiste Wagner erstmalig im Jahre 1871 nach Bayreuth, um das hiesige markgräfliche Opernhaus für sein Ring-Projekt zu besichtigen mit der Erkenntnis, dass es seinen Ansprüchen in keinster Weise genügte und nur ein Neubau die Lösung sein konnte. Mit der zyklischen Uraufführung des Ring des Nibelungen 1876 – Rheingold und Walküre waren bereits als Einzelwerke auf Geheiß König Ludwigs II und gegen den Willen Wagners in München zur Aufführung gekommen – hatte Wagner den vorläufigen Höhepunkt seines Schaffens erreicht. Sein Monumentalwerk, von ihm nicht nur komponiert und geschrieben, sondern auch selbst inszeniert, in seinem eigenen Theater, das hat es vorher nicht gegeben, und nach Wagner bis heute und wohl auch in Zukunft nicht mehr. Diesem Alleinstellungsmerkmal des Jahres 1876 widmet Bauer in seinem Werk alleine weitere 50 Seiten. Mit Akribie und Präzision werden alle Details der Vorbereitung, der Proben und der Uraufführung beschrieben, mit genauen Angaben zu Bühnenbildern, Kostümen, Bühnentechnik und natürlich zur Musik und den Sängern der Uraufführung. Dabei entsteht durch Bauers Schreibstil und seine Detailverliebtheit ein derart plastisches Bild im Kopf, dass der geneigte Leser wie ein stummer Zuschauer am Bühnenrand steht und dabei den großen Meister beobachtet, wie er mit höchstem körperlichem Einsatz den Sängern seine Intentionen zu vermitteln versucht.
Bauer nutzt hier klug die Augenzeugenberichte von Zeitzeugen, wie etwa die Komponisten Camille Saint-Saëns oder Peter Tschaikowski. Den Kontrapunkt dazu bildet später im Band II die Jahrhundert-Inszenierung von 1976 mit dem französischen Gespann Patrice Chéreau und Pierre Boulez.
Insgesamt 21 Kapitel in Band I beschreiben chronologisch und sehr detailliert die Festspiele von 1876 bis 1944 sowie die Zeit nach dem Krieg bis 1950. Der Uraufführung des Parsifal 1882 in Bayreuth widmet Bauer wieder ein sehr umfangreiches Kapitel. Viele Illustrationen bereichern und veranschaulichen die Angaben und verdichten den Gesamteindruck. Nach dem Tode Richard Wagners 1883 übernahm seine Witwe Cosima die Leitung der Festspiele und baute den Bayreuther Spielplan systematisch auf. Ihr glühender Antisemitismus, ihre schon diktatorischen Züge in der Festspielleitung und ihr verklärender Konservatismus als Gralshüterin des Wagnerischen Schaffens werden in diesem Band nicht verschwiegen.
Ihr Sohn Siegfried Wagner übernahm die Leitung der Festspiele 1907 bis zu seinem frühen Tode 1930. Wegen des ersten Weltkrieges mussten die Festspiele am 2. August 1914 abgebrochen werden und konnten erst zehn Jahre später wieder aufgenommen werden. Nach Siegfried Wagners Tod während der Festspiele im August 1930 übernahm seine Witwe Winifred die Leitung. Ihre Regentschaft ist bis heute aufgrund ihrer Nähe zu den Nationalsozialisten einerseits und aufgrund ihrer fachlichen Defizite andererseits umstritten. Dennoch gelang es ihr, die beiden größten Dirigenten der damaligen Zeit, Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini, gleichzeitig für die Festspiele von 1931 zu gewinnen. Deren unterschiedliche Charaktere, ihre Auffassung von Dirigat und Interpretation der Wagnerischen Werke, ihr Umgang mit den Orchestermusikern und nicht zuletzt ihre Eifersüchteleien beschreibt Bauer in diesem Kapitel so detailliert wie wohl kein Chronist zuvor. Da wird der Band noch zu einem Lehrbuch für Musikwissenschaftler, die sich mit den unterschiedlichen musikalischen Interpretationsmöglichkeiten bei Wagner beschäftigen.
Im so genannten Dritten Reich wurde Bayreuth „Hitlers Hoftheater“, so der Schriftsteller Thomas Mann. Dieser dunklen Zeit widmet Bauer über 150 Seiten, in denen er die kontinuierliche Vereinnahmung der Festspiele durch die Nazis und den Missbrauch für ihre Propaganda detailliert beschreibt. Die inszenierten und umjubelten Auffahrten Hitlers zum Grünen Hügel, sein jovialer Umgang mit den Künstlern und der Versuch, sich als Kunstkenner und Wagnerianer darzustellen, werden hier nicht verschwiegen. Auch Winifred Wagners unrühmliche Rolle in diesem Szenar wird deutlich herausgearbeitet, ihre Nähe und ihre Begeisterung für Adolf Hitler und ihre fast schon devote Unterwerfung unter die Nazis stoßen auch heute noch ab.
Genau vor 80 Jahren, am 19. Juli 1936, wurden die Bayreuther Festspiele mit einer legendären Neuinszenierung des Lohengrin eröffnet, unter der musikalischen Leitung von Hitlers Lieblingsdirigenten Wilhelm Furtwängler, in der Regie von Heinz Tietjen, mit dem großartigen Franz Völker in der Titelrolle. Erstmals wurde das Werk in der Urfassung mit der erweiterten Gralserzählung gegeben. Diese Passage hatte Wagner selbst schon 1850 gestrichen, jetzt, im 60. Jubiläumsjahr der Festspiele widmete Winifred Wagner diese Passage ihrem „geliebten Führer“, der in der Loge sitzend dieses Geschenk „dankbar“ entgegennahm, wie der Chronist berichtet. Das ist nur eine von vielen Episoden in der wechselvollen Geschichte der Festspiele während des Dritten Reiches. Eine weitere ist der erste Auftritt des erst zwanzigjährigen Wieland Wagner in Wehrmachtsuniform als Bühnenbildner des Parsifal 1937.
Bauer ist kein Hofberichterstatter, er beschönigt nichts, aber er verdammt auch nicht, sondern lässt alleine die Quellen und die vielen Zeitzeugen sprechen. Während er hier nichts ausspart, wird das Privatleben der Wagners nur am Rande gestreift, insofern es eine Bedeutung für die Festspiele hat. Gänzlich ausgespart bleiben beispielsweise die Homosexualität von Siegfried Wagner und seine Schwierigkeit, ganz aus dem Schatten des Vaters herauszutreten.
Während des Zweiten Weltkrieges fanden von 1940 bis 1944 die sogenannten Kriegsfestspiele statt, in denen 1943 und 1944 nur noch Die Meistersinger von Nürnberg zur Aufführung kamen. 1945 besetzte die amerikanische Armee das Festspielhaus, dann wurde es unter Treuhänderschaft gestellt. So diente in dieser Zeit das Festspielrestaurant als Flüchtlingslager. 1949 wurde das Festspielhaus an Winifreds Söhne Wieland und Wolfgang Wagner übergeben. Das letzte Kapitel des ersten Bandes über die Jahre 1945 bis 1950 steht unter der Überschrift Ende einer Ära und Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere der Aufbau des ältesten Wagnerenkels Wieland zum neuen Leiter der Festspiele nach seiner Entnazifizierung 1949 ebnet den Weg zu „Neubayreuth“, welches im Band II dann ausführlich beschrieben wird.
Im Band II der Geschichte der Bayreuther Festspiele bricht sowohl thematisch auch als auch stilistisch eine neue Ära an. Mit den ersten Festspielen nach dem Krieg im Jahre 1951 beginnt nicht nur die Ära „Neubayreuth“ unter Wieland Wagner, sondern auch der Erzählstil von Oswald Georg Bauer verändert sich zunehmend. Im ersten Band ist Bauer mehr der Theaterwissenschaftler, der Chronist, der anhand von tausenden Quellen ein Mosaik über ein Jahrhundert deutscher Kultur- und Theatergeschichte zusammensetzt. Seine Erzählweise ist stilistisch der jeweiligen Zeit, die er beschreibt, angepasst. Manchmal hat man das Gefühl, man liest in Richard Wagners Mein Leben oder in Cosima Wagners zahlreichen Tagebüchern, die natürlich im wahrsten Sinne des Wortes ein Quell der Zeitgeschichte sind.
Aus dem Chronisten und Theaterwissenschaftler wird im Laufe der Zeit der mitbeteiligte Zeitzeuge und intime Kenner der Bayreuther Szene, der vieles vor und hinter den Kulissen selbst erlebt hat und aus einem eigenen Fundus an Erfahrungen und Kenntnissen schöpfen kann, ohne dabei die akribische Arbeit eines Theaterwissenschaftlers mit der umfangreichen Sichtung des vorhandenen Quellenmaterials zu vernachlässigen. Insbesondere Wolfgang Wagner, mit dem er seit 1974 bis zu dessen Tode im Jahre 2010 eng verbunden war, ist der wichtigste Zeitzeuge für Bauer. Die ersten Kapitel dieses Werkes konnte Wagner selbst noch entgegennehmen.
Im Juli 1951 konnten die Bayreuther Festspiele nach siebenjähriger Pause wieder aufgenommen werden. Die Brüder Wieland und Wolfgang Wagner waren gleichberechtigt als Festspielleiter und Regisseure. Mit Wieland Wagners Neuinszenierung des Parsifal begann die Epoche von Neubayreuth. Sie war vor allem von Wielands revolutionären Neudeutungen der Wagnerschen Werke geprägt, die weltweit zum Vorbild wurden. Seine wichtigsten Dirigenten in dieser Zeit waren Hans Knappertsbusch und Karl Böhm. Diesem Neubeginn von Bayreuth widmet Bauer ein ausführliches Kapitel und beschreibt neben den Mühen und Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre den neuen Stil der Brüder Wagner, alles Politische vom Grünen Hügel fern zu halten. „Hier gilt’s der Kunst“ ist quasi das Motto des Neuanfangs. Die Festspiele der 1950-er Jahre entwickeln sich zu einem Mekka des Wagnerschen Schaffens, alle namhaften Wagner-Sänger und -Sängerinnen der damaligen Zeit versammeln sich in Bayreuth, das vielleicht in künstlerischer Hinsicht seinem Zenit entgegenstrebt. Astrid Varnay, Martha Mödl, Wolfgang Windgassen, Hans Hotter, um nur einige Namen zu nennen. Aber auch die Verpflichtung der neunzehnjährigen Anja Silja als Senta 1960 statt der zu hohe Gagen fordernden Leonie Rysanek und der Auftritt von Grace Bumbry als „Schwarze Venus“ 1961 im Tannhäuser sorgten für Schlagzeilen und brachten Glamour nach Bayreuth. Dass die Medien das Liebesverhältnis von Anja Silja 1962 mit dem 23 Jahre älteren und verheirateten Familienvater Wieland Wagner bei ihrer Rückkehr als Elisabeth nach Bayreuth intensiv ausschlachten, übergeht Bauer in seiner Chronik allerdings galant.
Nach Wieland Wagners viel zu frühem Tod im Jahre 1966 mit nur 49 Jahren übernahm sein Bruder Wolfgang die alleinige Leitung der Festspiele, die er bis zu seinem Abschied zum Ende der Festspiele 2008 über 50 Jahre innehatte. Es war Wolfgang Wagner, der die Festspiele für neue Regisseure und neue Gedanken öffnete, ohne dabei auf eigene Inszenierungen zu verzichten. So erlebte die Neuinszenierung des Tannhäuser 1972 durch Götz Friedrich in den Bühnenbildern von Jürgen Rose den bis dahin größten Bayreuther Theaterskandal. Friedrich, ein Schüler Walter Felsensteins, inszenierte den Tannhäuser explizit als Gesellschaftskritik.
„Die reaktionäre Wartburggesellschaft meine er ganz konkret in dem Publikum wiederzufinden, das auf den Grünen Hügel pilgert, um Kunst und Frieden zu finden“. Friedrich, DDR-Bürger, wollte politische Aktualität und der dekadenten westlichen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Bauer beschreibt nicht nur detailliert die für die damalige Zeit revolutionäre Neuinszenierung, sondern beleuchtet auch den gesellschaftlichen Diskurs, den diese Aufführung auch außerhalb der Festspiele auslöste. Damit wird ein weiteres Mal dieser Band auch zu einem Zeitdokument gesellschaftspolitischer Veränderungen.
Übertroffen wurde dieser Tannhäuser-Skandal nur vier Jahre später von dem, was die „Jahrhundertring“-Inszenierung von Patrice Chéreau im Jubiläumsjahr 1976 auslöste. Pierre Boulez dirigierte, Richard Peduzzi entwarf die Bühnenbilder. Doch was als Skandal begann, endete 1980 als der größte Triumph der Festspiele. Chéreau wollte weg von Symbolen und Mythos, hin zum Menschlichen in der Geschichte, die er ganz nahe an die Zuschauer bringen wollte. Auf über 60 Seiten beschreibt Oswald Georg Bauer die Vorbereitungen, die Diskussionen um diesen Jahrhundertring bis hin zu einer detaillierten Analyse dieser Inszenierung, die durch die theaterwissenschaftliche Aufarbeitung eine Aktualität bis in die heutige Zeit besitzt. Dieses Kapitel ist sicher der literarische Höhepunkt des zweiten Bandes und für sich genommen schon ein kleines Buch.
Namhafte Regisseure wie Harry Kupfer mit seine großartigen „Ring-Deutung“ von 1988, Jean-Pierre Ponnelle, Werner Herzog mit seinem Lohengrin von 1987, Heiner Müllers legendärer Tristan von 1993, Dieter Dorns Fliegender Holländer von 1990 und Alfred Kirchners märchenhafte „Ring-Erzählung“ von 1994, um nur einige zu nennen, prägten das Bild der Wagner-Festspiele unter der Ägide des Wagner-Enkels Wolfgang, der selbst in dieser Zeit Die Meistersinger von Nürnberg und Parsifal auf die Bühne brachte. All diese Inszenierungen werden, mit ausführlichen Bildern versehen, detailliert besprochen.
Genauso prominent die Reihe der Dirigenten, die Bayreuth und dem Wagnerschen Schaffen nach dem Krieg bis hin zur Gegenwart ihren Stempel aufdrückten. Von Carlos Kleiber, Lorin Maazel, Eugen Jochum, Colin Davis, Daniel Barenboim, Georg Solti, James Levine und Giuseppe Sinopoli, die über ein halbes Jahrhundert das musikalische Gütesiegel Bayreuth prägten, bis hin zu Christian Thielemann in der Ära nach Wolfgang Wagner. Nach dem Rücktritt Wolfgang Wagners übernahmen seine beiden Töchter Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner die Leitung der Festspiele, die wiederum seit September 2015 alleinige Leiterin der Festspiele ist. Der offizielle Teil dieser Chronik endet mit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts, und Bauer bilanziert zum Schluss die 1990-er Jahre.
Unter der Überschrift Das neue Jahrtausend leitet Bauer über zum Schlusskapitel und gewährt auf knappen zehn Seiten einen kurzen Einblick in die Festspiele von 2000 bis 2015, ohne dabei noch auf die Inszenierungen in dieser Zeit einzugehen. Als Theaterwissenschaftler „fehle ihm zu dieser Zeit die nötige Distanz“, so Bauer. Der Epilog schließt mit den Worten: „Nichts ist zu Ende. Alles liegt noch vor uns.“
Wenn man auf die umfangreiche Danksagung in der Einleitung von Band I schaut, so fällt auf, dass Bauer sehr herzlich Eva Wagner-Pasquier dankt, die auch das Grußwort geschrieben hat. Mit keinem Wort wird allerdings die amtierende Festspielleiterin Katharina Wagner erwähnt. Nach seiner eigenen Aussage könne er bislang kein Fazit ziehen: "Sie ist ja noch am Zug." Das sei erst möglich, wenn sie in den Ruhestand gehe. "Ich lasse offen, wie es weitergeht." Vielleicht ist es Bauer ja noch vergönnt, auch diese Zeit in einem dritten Band zu dokumentieren. 2026 wäre ein guter Zeitpunkt, dann werden die Bayreuther Festspiele 150 Jahre alt.
Seine Dankesworte schließt Bauer natürlich mit einem Wagner-Zitat aus den Meistersingern von Nürnberg: „Habt Dank der Güte, aus tiefstem Gemüte.“ (Walther von Stolzing, Erster Aufzug). Das passende Zitat scheint Bauer sehr zu lieben, denn mit denselben Worten beendet er auch die Dankesworte in seinem Buch Richard Wagner geht ins Theater von 1996. Hier hat sich für den Chronisten und Theaterwissenschaftler Oswald Georg Bauer ein Kreis geschlossen.
Neben den vielen Krisen und Krächen, die synonym für die Bayreuther Festspiele stehen, dem permanenten Verschleiß von Dirigenten und Regisseuren sowie den teilweise sängerischen Notlösungen gewährt Bauer dem interessierten Leser auch Einblicke in zum Teil ganz profane Angelegenheiten wie die Klagen über überzogene Festspiel-Preise für Kost und Logis, die Renovierungen des Festspielhauses, die Finanzlöcher und Sonderanleihen, das nicht immer transparente Wirken der „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ zwischen Geldbeschaffung und hintergründiger Einflussnahme. Auch das breite Besucherspektrum zwischen Hochadel und Finanzwelt, Komponisten, Philosophen und hartgesottenen Wagnerianern wird immer wieder, mal auch mit einem Augenzwinkern, beleuchtet. So zeigt Abbildung 576 im Band II das Publikum in der Pause der letzten Tannhäuser-Aufführung am 28. August 2003. Inmitten der Menschenmenge erkennt man Kardinal Josef Ratzinger, der zwei Jahre später zum Papst Benedikt XVI gewählt wurde. Leider gibt es kein Statement von Ratzinger, wie ihm diese Aufführung gefallen hat.
An diesem enzyklopädischen Standardwerk über die Geschichte der Bayreuther Festspiele, über das große Schaffen Richard Wagners, über 150 Jahre deutscher Theatergeschichte, Politik, Kultur und gesellschaftlichen Diskurs kommt kein Wagnerianer vorbei, für den Liebhaber ist es ein Muss, für den Neugierigen eine aufregende Entdeckungsreise in die große Welt Richard Wagners. Man muss dieses Buch nicht von Seite eins beginnend durchlesen. Die chronologische Gliederung lässt es zu, sich einfach und schnell mit einzelnen Kapiteln oder Aufführungen zu beschäftigen. Auch die vielen Abbildungen lassen ein mußevolles Durchblättern gerne zu.
Empfehlung: Man nehme eine historische Schallplatten- oder CD-Aufnahme aus Bayreuth, gönne sich dazu einen edlen Tropfen roten Weines, und verfolge zu der Aufnahme den historischen Kontext in diesem Buch, und man ist plötzlich zeitversetzt an historischem Orte und imaginärer Zuschauer in Bayreuth.
Auch wenn der Preis von 128 EUR auf dem ersten Blick recht hoch erscheint, so sind diese beiden Bände, hochwertig verarbeitet und in einem attraktiven Schuber geliefert, jeden Cent wert.
Wolfgang Wagner hat in seinem Vorwort zu Oswald Georg Bauers Buch Richard Wagner: Die Bühnenwerke von der Uraufführung bis heute von 1982 geschrieben:
„Wenn dieses Buch nicht nur als Dokumentation historischer Begebenheiten verstanden wird, sondern als Anregung für eine lebendige Auseinandersetzung mit der Wagner-Szene und dem Theater überhaupt beiträgt, dann hat es seinen Sinn erfüllt.“
Diese Aussage gilt auch fast 35 Jahre später und ist eins zu eins auf Oswald Georg Bauers Die Geschichte der Bayreuther Festspiele übertragbar.
Andreas H. Hölscher