Kulturmagazin mit Charakter
Hintergründe
Nur alle zwei Jahre werden in der fränkischen Bischofsstadt vom federführenden Verein Musica Canterey Bamberg Tage Alter Musik veranstaltet, und so widmen sie sich nun eben schon 2016 statt verspätet 2018 an vier gut besuchten Abenden unter dem Motto „Luther ante portas!“ der weithin unbekannten Beziehung Luthers zur Musik, wobei hier der eigene Chor, das Vokalensemble Stimmwerck, die Capella de la Torre sowie eine kleine Theatergruppe die Atmosphäre der damaligen Zeit wieder aufleben lassen und mit Wort, Klang und Spiel daran erinnern, was im Umfeld Luthers gesungen und musiziert wurde, was der Reformator selbst an musikalischen Werken geschaffen oder beeinflusst hat und wie seine Wertschätzung der Musik in der Kirche auch heute noch weiter wirkt.
Gleich beim einführenden Gesprächskonzert im Kapitelsaal erfahren die höchst interessierten Zuhörer theoretisch und praktisch von der Bedeutung Luthers als Schöpfer und Initiator von Liedern und Chorälen. Das Leben und Wirken Luthers von seinem Verhältnis zur Musik her zu betrachten, ist ungewöhnlich. „Es gibt keine Kunst nach der Theologie, die der Musik gleichkäme. Sie allein nämlich kann beruhigen und erquicken, was sonst und an erster Stelle nur die Theologie vermag“, schrieb er 1530 an seinen Freund, den in Zürich geborenen Komponisten Ludwig Senfl. Später meinte er, die Musik verschaffe „Ruhe und ein fröhliches Gemüthe“, deshalb sei sie auch „dem Teufel zuwider und unerträglich“. So „siehet und erkennet man mit großer Verwunderung die große und vollkommene Weisheit Gottes in seinem wunderbarlichen Werke der Musik“. Und den, der das nicht schätzt, hielt er für „einen groben Klotz, der nicht wert ist, dass er solche liebliche Musike, sondern der Hunde oder Säue Gesang und Musika höre“.
Eine solche Einstellung kommt nicht von ungefähr. Luther war musikalisch hochgebildet, kannte die großen Tonschöpfungen der Meister seiner Zeit, beherrschte das Lauten- und Flötenspiel, pflegte Hausmusik, sang als Chorknabe in seiner Heimatstadt Eisenach und wirkte nach seinem Eintritt ins Augustinerchorherrenstift Erfurt auch dort im Chorus musicus mit, vor allem bei den von ihm hoch geschätzten Gregorianischen Chorälen; bei festlichen Gelegenheiten hörte er dort auch die Motetten der großen Tonschöpfer seiner Zeit. Selbstverständlich war er durch sein Studium vertraut mit den Grundbegriffen der Musik und Komposition, schuf selbst mehrstimmige Liedsätze, betrachtete diese aber durchaus selbstkritisch. Immerhin gehen 45 eigene Liedschöpfungen auf sein Konto, von denen 36 überliefert sind, und wahrscheinlich stammen auch die Melodien von 20 Choralsätzen von ihm.
Der einzig von ihm erhaltene mehrstimmige Satz zu seinem Text Non moriar sed vivam, den er in Zeiten tiefster Depression wegen des Todes seines Vaters 1530 schrieb, und seine letzten Worte auf dem Sterbebett Mein himmlischer Vater, vertont später von Caspar Othmayr, erklingen an diesem denkwürdigen Abend, gesungen vom Vokalensemble der Musica Canterey Bamberg, und ermöglichen so einen tiefen Einblick in die Intentionen Luthers und eine Einordnung in das Liedschaffen vor und nach ihm.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Gemeinde meist des Lateinischen und des Lesens und Schreibens nicht mächtig und so im Grunde vom Verständnis der Messe ausgeschlossen war, „erfand“ Luther das Lied in deutscher Sprache zur Verkündigung von Gottes Wort, um die Laien auch aktiv am Gottesdienst zu beteiligen. Denn er wusste „so sie’s nicht singen, glauben sie es nicht“. Eine funktionierende Methode war, deutsche Lieder als Einzelblätter zu drucken und wie Flugblätter zu verteilen, oft zu einem Hauptstück des Katechismus, diese durch Marktschreier auf Märkten singen und verkaufen zu lassen; die Kinder lernten diese Lieder, sangen sie in den Gottesdiensten. Es gab damals für die Gemeinde noch keine Gesangbücher; erst ab 1523 erschienen gedruckte evangelische Liedsammlungen, auch deutsche Lieder zu den Psalmen.
All diese Motivationen Luthers zum Einsatz der Musik in der Kirche erläutern in einem launigen Dialog zwei Experten für Chorgesang, der katholische Pfarrer Christoph Uttenreuther und der evangelische Andreas Wittenberg. Das hervorragend aufeinander abgestimmte Vokalensemble der Musica Canterey liefert zu diesen Wortbeiträgen immer wieder eindrucksvoll klanglich abgestimmte, in ihrer schlichten Weise überzeugende Tonbeispiele. Wer über den Namen der Chor-Vereinigung rätselt, dem verrät Chorleiter und Vereinsvorsitzender Norbert Köhler schmunzelnd: „Der kommt her von dem berühmten Bild vom Triumphzug von Kaiser Maximilian, gefertigt von Jacob Burgkmayr; denn da fahren auf einem Triumphwagen auch Musiker mit, und darunter steht musica canterey; wir dachten, das passt zur Musik der Zeit, die wir aufführen, und so ist daraus unser Markenzeichen geworden“. Untermalt von Klängen der Truhenorgel durch Gerhard Weinzierl und begleitet auf der Barockposaune von Horst Wiedermann, erklingen authentisch und ungekünstelt Werke vor, aus und nach der Zeit Luthers.
Begonnen wird mit dem andächtig schlichten Ave Jesu Christe des aus Bamberg stammenden Heinrich Finck, dem dann nach einem Gregorianischen Choral Luthers eigenes Werk Non moriar sed vivam folgt; im Vergleich mit der Vertonung desselben Textes durch Ludwig Senfl musste man dem Urteil des Reformators über die Qualität seines musikalischen Schaffens Recht geben: Die Verzahnung der Stimmen war bei dem Hofkompositeur des bayerischen Herzogs einfach raffinierter. Auch die altertümliche Ostersequenz, die Melodie Christ ist erstanden aus dem 11. Jahrhundert und das Christ lag in Todesbanden von Johann Walther, dem musikalischen Ratgeber Luthers, vermitteln einen Eindruck von den Gesängen, die damals im Gottesdienst erklangen, ebenso wie der vierstimmige Choral Aus tiefer Not schrei ich zu dir von Michael Prätorius. Das gibt die Stimmung der Zeit wieder, denn damals hatte man große Angst vor der Hölle. Luther betonte jedoch, nur durch die Gnade Gottes käme man in den Himmel, nicht durch rechtfertigende Taten wie den Kauf von Ablassbriefen.
Und die frohe Botschaft des Glaubens drängt sich für ihn in die Musik. Einer der großen deutschen Tonschöpfer der Nach-Luther-Zeit ist zweifellos Heinrich Schütz; ein schönes Beispiel dafür ist Eile, mich, Gott, zu erretten, vom Solo-Sopran von Silvia Bier fein abgestuft vorgetragen. Interessant ist, dass das eigentlich katholische Fronleichnamsfest auch Eingang fand in die evangelischen Gesänge, etwa das größten Teils von Luther gedichtete, von Johann Degen vertonte Gott sei gelobet und gebenedeiet. Gegen den Papst und die Türken, nach Luther Erzfeinde des Christentums, richtet sich Erhalt uns, Herr, nach deinem Wort von Balthasar Resinarius, und mit der musikalischen Reliquie Mein himmlischer Vater von Caspar Othmayr, als letzte Worte Luthers von seinen Söhnen überliefert, klingt ein höchst informativer, musikalisch sehr interessanter Abend aus.
Weniger den Verstand, eher das Gemüt spricht der zweite Abend an. Unter dem Motto „Vergnügliches aus der Lutherzeit“ erklingt Bläsermusik der Renaissance im Hof von St. Stephan von der vorzüglichen Capella de la Torre aus Berlin. Sie bietet unter der anregenden Leitung von Katharina Bäuml, die mit ihrer Schalmei dem Ensemble Schwung und gute Laune einbläst, sozusagen die musikalische Basis zu zwei Fastnachtsspielen von Hans Sachs. Dieser äußerst produktive Nürnberger Schuster, Dichter und Meistersinger war ein prominenter Mitstreiter von Luther, verfasste mehr als 6000 Verse und besang den Reformator als „Wittenberger Nachtigall“, die „nach der Nacht des Aberglaubens den lichten Tag des Glaubens ausrief“. Die deutschen Psalmenlieder von Hans Sachs wurden beispielsweise als Flugblätter in Straßburg auf dem Markt angeboten, seine Fastnachtsspiele glossieren die Unbildung des „gemeinen“ Volkes und wenden sich auch gegen die Auswüchse in der katholischen Kirche, gegen die Luther ankämpfte. Im Mittelpunkt standen dabei Ablasswesen und Teufelsaustreibung. Genau dagegen wendet sich in humorvoller Weise das berühmte Stück Der fahrend Schüler im Paradeis und Das Kälberbrüten. Das ist zugleich hintersinniges, religionskritisches Kabarett wie auch vergnügliches Bauerntheater; immer dreht es sich um einfältige, untereinander zerstrittene Paare, um Aberglauben und Gottesfurcht; am Schluss aber einigen sie sich doch gütlich, auch wenn sie hereingelegt wurden oder sich dumm verhalten haben; es gilt doch immer, vor der Gemeinschaft im Dorf wenigstens das Gesicht zu wahren.
Für die Aufführung auf der kleinen Bühne benötigen die jeweils drei Darsteller wenige Requisiten; die Stimmung vermittelt sich von selbst durch die altertümliche Kleidung und Sprache und das überzeugend naive Auftreten, von Spielleiter Christoph Uttenreuther bestens geführt. Im ersten Stück missversteht eine brave, aber dumme Bäuerin einen Studenten, der auf der Reise von und nach Paris bei ihr vorbeikommt; sie hat noch nie von dieser Stadt gehört, glaubt, er komme aus dem Paradies und gibt ihm Geld und Kleidung für ihren verstorbenen ersten Mann mit; ihr zweiter Mann wird bei der Verfolgung des Betrügers wider Willen auch noch sein Pferd los. Trotzdem kehren schließlich beide ihre Torheit unter den Teppich des Vergessens.
Auch beim Kälberbrüten wird ein ähnlich verquerer Fall geschildert. Ein fauler Bauer mit fleißiger Frau hat zu Hause eine Katastrophe angerichtet und glaubt, wenn er einen stinkenden Käse ausbrüte, werde ein Kälbchen daraus entstehen; die Frau ist verzweifelt, holt den Pfarrer, der den vermeintlichen Dämon aus ihrem Mann austreiben soll; beim Handgemenge mit dem Geistlichen fällt ihr Gatte vom Käse, und so wird seine Torheit offensichtlich. Trotzdem schließt sie seufzend mit dem Tölpel Frieden. Zu diesen Hans-Sachs-Stücken passt die Musik der Capella de la Torre vorzüglich. Denn sie bietet in historisch informierter Aufführungspraxis auf Nachbauten historischer Holzblas-Instrumente wie Schalmei, Pommer, Dulzian, Bassdulzian, verschiedenen Flöten, mit Barockposaune und verschiedensten Percussions-Instrumenten einen Querschnitt durch das, was im 15. und 16. Jahrhundert reisende Pfeifer-Gruppen an Fürstenhöfen, auf Märkten oder von Türmen an Tänzen oder Vokalmusik in ganz Europa vortrugen. Ein schönes Beispiel dafür liefert ein dreisätziges Werk aus der Sammlung der Gebrüder Hess aus Breslau. Die übrigen, oft kurzen Stücke aus Italien, Deutschland, Frankreich, Polen, den Niederlanden und Spanien zeigen in der kunstvollen Verwendung einzelner Stimmen und in ihren mitreißenden Rhythmen, die den Ausführenden auch gewisse Freiheiten in den Verzierungen bieten, wie vielschichtig das Musikschaffen damals schon war. So rundet sich das Bild einer für uns doch fernen Epoche, in der Luther lebte, auch für die Hörer von heute.
Schließlich gedenkt man mit zwei Konzerten in der Kirche St. Stephan einerseits der Texte Luthers, auf die verschiedene Komponisten wie Schütz, Bach oder Mendelssohn-Bartholdy Choralsätze entwickelt hatten, andererseits huldigt man mit Werken seiner Zeitgenossen dem Reformator. Im ersten Fall stehen für die Gesangsstücke mit dem großen Chor der Musica Canterey Bamberg, für die Instrumentalwerke mit einem Instrumentalensemble und Orgel Choral-Kompositionen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert auf dem Programm, im zweiten rückt das bekannte Vokalensemble Stimmwerck aus München Musik aus dem Umkreis Luthers, vor allem von Senfl oder Desprez, in den Mittelpunkt eines Konzerts mit reichhaltiger Vokalmusik. So erschließt sich bei den Tagen der Alten Musik Bamberg der musikalische Kosmos Luthers mühelos allein durch das Hören, und der Reformator wird uns von einer bisher ungewohnten Seite bekannt.
Renate Freyeisen